Abschlussarbeit zur Synergetik-Therapie Ausbildung
von Michael Gerards
Mentorin: Agnes Ewerling
Inhaltsverzeichnis
Theoretische Grundlagen der Synergetik-Therapie 2
Grundkonzepte der Synergetik: Das Beispiel von Instabilitäten und Mustern
in Flüssigkeiten 3
Die neuronale Matrix als Arbeitsebene der Synergetik-Therapie 11
Die Bedeutung der Umwelt 14
Ordnungen der Lebenswelt als Muster 18
Von der Synergetik Theorie zur Praxis der Synergetik-Therapie 22
Schluss 32
Literatur 33
Theoretische Grundlagen der Synergetik-Therapie
Die von Bernd Joschko seit 1988 entwickelte Synergetik-Therapie beruft sich
hinsichtlich ihrer theoretischen Fundierung auf die von Hermann Haken zunächst
für den Bereich der mathematischen Physik formulierte Synergetik Theorie,
die im Laufe der Zeit auf andere natur- und geisteswissenschaftliche Disziplinen
übertragen wurde und breite Anwendung fand. Haken konzipierte seine Theorie
als die "Lehre vom Zusammenwirken", mit der unter Bezug auf die systemischen
Modelle der Selbstorganisation Prozesse der Entstehung und des Wandels von Ordnungen
erklärt und mit Hilfe der Differentialrechnung mathematisch abgebildet
werden. Im Bereich der Wissenschaft hat die Synergetik somit ihren Platz gefunden,
indem sie zur wissenschaftlichen Hypothesenformulierung und -überprüfung
genutzt wurde und ihre Erklärungskraft für vielfältige empirische
Phänomene und Befunde unter Beweis gestellt hat (vgl. etwa Haken &
Schiepek, 2006). Nun ist die Synergetik-Therapie weit entfernt von einer wissenschaftlichen
Anwendung der Synergetik Theorie: Eine Definition und Operationalisierung zentraler
Variablen, gar ihre reliable und valide Messung mit standardisierten Instrumenten
oder eine statistische Auswertung der erhobe-nen Daten im Sinne einer Hypothesenprüfung
findet zur Zeit nicht statt und ist allenfalls für die Zukunft angedacht.
Die Synergetik Theorie wird in der Synergetik-Therapie viel-mehr genutzt, um
Abgrenzungen von anderen therapeutischen Vorgehensweisen aufzuzei-gen und das
eigene Vorgehen mit Hilfe von Analogiebildungen und Metaphern, wie sie die Synergetik
anbietet, transparent zu machen.
Im Folgenden wird zu zeigen versucht, welche Konzepte und Modellvorstellungen
der Synergetik Theorie sich besonders eignen, um die Prozesse der Synergetik-Therapie
deut-lich zu machen und in der Sprache der Synergetik zu reflektieren. Dabei
wird deutlich werden, dass die Modellvorstellungen der Synergetik uns eine Ergänzung
oder Alternative bieten zu den vorherrschenden Metaphern des mechanistischen
Weltbildes, die zwar immer wieder zur Beschreibung von Veränderungen herangezogen
werden, aus Sicht der therapeutischen Praxis aber letztlich unzureichend sind,
um den komplexen Phänomenen, mit denen sich der Praktiker konfrontiert
sieht, gerecht zu werden. In der mechanistischen Sicht der Welt stehen Dinge
statt Prozesse, Statik statt Dynamik, kontinuierliche, lineare statt qualitativer,
nicht-linearer Sprünge, Analyse und Synthese statt Ganzheitlichkeit oder
isolierte Ursache-Wirkungsmodelle statt systemischer Rückkopplungsansätze
im Vorder-grund. Gerade letztere zeigen die Unzulänglichkeit dieses Denkansatzes
für die Therapie: Wenn einer Wirkung B eine vielleicht noch linear gedachte
Ursache A zu Grunde liegen soll, dann wird menschliches Verhalten steuerbar
und vorhersehbar: Will ich die Wirkung B erzeugen, muss ich die Ursache A realisieren,
da diese ja gemäß der mechanistischen Ursache-Wirkungsbeziehung quasi
automatisch die zugeordnete Wirkung B zur Folge hat. Und noch besser: Im mechanistischen
Denken kann ich gewissermaßen von außen er-wünschte Wirkungen
erzeugen, sofern ich in der Lage bin, die entsprechenden Ursachen herzustellen.
Menschliches Verhalten wird programmierbar wie der Computer, der den mechanistischen
Prinzipien folgt. Doch welche Erfahrungen machen die Vertreter der Be-rufsgruppen,
die professionell mit den Veränderungen von Ordnungszuständen zu tun
ha-ben? Einerseits erweisen sich die Klienten auch bei ausgeprägtem Leidensdruck
häufig als resistent gegenüber den von außen an sie herangetragenen
Veränderungsintentionen, aus-geklügelte Interventionen der "Change
Manager" verpuffen, andererseits erfolgen Ent-wicklungssprünge oft
unerwartet, beschreiten die Klienten auch ohne heftige Interventionen persönlich
neue Wege und gesunden. Steuerbarkeit und Vorhersehbarkeit sind im Bereich menschlichen
Erlebens und Verhaltens enge Grenzen gesetzt. Vielmehr scheinen Interventionsversuche
häufig so zu wirken, als würde der Change Manager mit einem Stock
in einem Wasserstrudel rühren: auch wenn er damit ausgeprägte Turbulenzen
erzeugen kann, wird die Strömung den Strudel wiederherstellen, sobald der
Stock aus dem Wasser gezogen wird. Und selbst wenn der Stock im Wasser verbleibt,
wird sich an der Gestalt nichts Wesentliches ändern, wenn Parameter wie
etwa Wassermenge, Strömungsge-schwindigkeit oder Bodenbeschaffenheit gleich
bleiben. Bevor wir uns genauer mit syner-getischen Prozessen im Rahmen der Veränderung
psychischer Systeme beschäftigen wollen, sollen an einem Beispiel aus dem
Bereich der Physik grundlegende Konzepte der Synergetik erläutert werden.
Wir greifen dazu auf die in der Literatur und in der Synergetik-Therapie-Ausbildung
gerne verwendete Bérnard-Konvektion zurück (Haken & Schiepek,
2006; Hansch, 2004).
Grundkonzepte der Synergetik: Das Beispiel von Instabilitäten und Mustern
in Flüssigkeiten
Verbleiben wir zur Erläuterung des Synergetik-Modells im Bereich der Flüssigkeiten,
doch verlagern wir den oben angesprochenen Wasserstrudel jetzt in unsere Küche
(oder - wem es besser gefällt - in ein wissenschaftliches Labor). Dort
erhitzen wir in einer Pfanne eine dünne Ölschicht gleichmäßig
von unten. Wir werden beobachten, dass es in der Flüssigkeit ab einer bestimmten
Temperaturdifferenz zwischen Boden und Oberfläche zur Ausbildung von Streifen-
oder Wabenmustern kommt, die als verschiedene Strömungsmuster verstan-den
werden können. Durch diese von dem französischen Physiker Henri Bérnard
entdeck-ten Umlaufströmung (Konvektion) wird die Wärmeenergie in unserer
Pfanne von unten nach oben transportiert: Es kommt zu einem Temperaturausgleich,
wie er von den Geset-zen der Physik gefordert wird.
Betrachten wir diesen Vorgang etwas genauer:
Zu Beginn ist das Öl in der Pfanne in einem stabilen Ruhezustand, es sind
keine Bewegungen auf der Oberfläche auszumachen. Nun wird Wärme von
unten zugeführt, die vor allem von den Flüssigkeitsmolekülen
in der unteren Schicht (die ja näher an der Wärmequelle sind) aufgenommen
wird. Die Moleküle geraten in Bewegung, wozu sie Platz brauchen, so dass
sich die unteren Flüssigkeitsschichten ausdehnen. Dies hat zur Folge, dass
pro Volu-meneinheit in den unteren Schichten weniger Moleküle enthalten
sind als in den oberen kühleren Schichten. Da damit aber die Volumeneinheit
Flüssigkeit unten weniger Gewicht hat als oben, entsteht ein zunehmend
instabiler Zustand, bei dem die kühlen und schwere-ren Flüssigkeitsvolumina
nach unten und die wärmeren und leichteren Flüssigkeitsvolumina nach
oben streben. Der instabile Zustand wird noch dadurch verstärkt, dass es
auf Grund der Bewegungen der Moleküle auch zu ausgeprägteren Zufallsbewegungen
größerer Flüssigkeitsanteile, sogenannten Fluktuationen, kommt.
Diese Fluktuationen nehmen zu, wenn die Temperaturdifferenz zwischen oben und
unten größer wird, es entstehen kritische Fluktuationen als immer
großräumigere Flüssigkeitsbewegungen, durch die die Aufgabe
des Wärmetransportes gelöst werden soll. Dabei kommt es zwischen diesen
kritischen Fluktuationen zu einer Art Wettkampf, der ab einem kritischen Wert
der Temperaturdiffe-renz von demjenigen Bewegungsmuster gewonnen wird, das unter
den gegebenen Bedin-gungen die gestellte Aufgabe am besten löst. Im Falle
der Bérnard-Konvektion sind dies zunächst Bewegungsmuster, bei denen
nebeneinanderliegende rotierende Flüssigkeitsrollen die Wärmeenergie
von unten nach oben schaufeln (vgl. Abb. 1): Es setzt eine makroskopisch geordnete
Bewegung ein, an der jeweils Myriaden von Molekülen koope-rativ beteiligt
sind. Durch positive Rückkopplung wird das anfänglich noch instabile
Be-wegungsmuster in Folge der lawinenartigen Selbstverstärkung immer stabiler
und gegen innere und äußere Störungen resistent.
Abb. 1: Ausbildung rollenförmiger Konvektionszellen beim Erwärmen
einer Flüssigkeit von unten: Temperatur 2 > Temperatur 1 (aus: Haken
& Haken-Krell, 1997, S. 75)
Die Flüssigkeitsrollen haben dabei zwei zunächst gleichwertige Möglichkeiten,
ihre Bewe-gung zu realisieren: Sie können rechts oder links herum drehen.
Der Physiker spricht hier von einem Symmetriebruch. Welche dieser beiden Alternativen
in Einzelfall umgesetzt wird, lässt sich nicht vorhersagen, da dies von
zufälligen Schwankungen der Dichte und der Geschwindigkeiten in der Flüssigkeit
abhängt. Hat die Temperatur eine kritische Schwelle überschritten
entsteht somit ein stabiles System, bei dem sich die erwärmte Flüssigkeit
ausdehnt, leichter wird und durch die links oder rechtsdrehende Flüssigkeitsrolle
nach oben steigt, dort die Wärme an die Luft abgibt, abkühlt und dadurch
wieder schwerer wird, nach unten sinkt, wieder erwärmt wird und so fort.
Man kann im Labor zeigen, dass bei einer weiteren Erhöhung der Temperaturdifferenz
dieses Muster wieder instabil wird und sich in Folge als neues Muster hexagonale
Konvektionszellen bilden, die in ihrer Form an Bienenwaben erinnern. Für
unsere Zwecke wollen wir diesen Prozess aber nicht weiter verfolgen, da zur
Erläuterung der Grundkonzepte der Synergetik die bisherigen Ausführungen
ausreichen.
Wie Abb. 2 auf Seite 4 deutlich macht, lassen sich bei der Bildung eines Musters
grund-sätzlich der Bereich der Dynamik und der Bereich der Schranken unterscheiden
(Hansch, 2004). Alle frei beweglichen Elemente des Systems, die an der synergetischen
Strukturbil-dung teilnehmen, gehören zur Dynamik. Im Fall der Bérnard-Konvektion
ist dies auf der Mikroebene, bei der das Verhalten der einzelnen Elemente im
Mittelpunkt steht, das Ver-halten der einzelnen Flüssigkeitsmoleküle.
Auf der Makroebene liegen dagegen die ganz-heitlichen Musterbildungen, also
dasjenige Rollenmuster, das sich gegenüber der anderen möglichen Ausprägungen
durchgesetzt hat. Dieses Makromuster, das die Konkurrenz auf der Ebene der Fluktuationen
gewinnt, wird in der Synergetik als Ordner bezeichnet: Aus dem Chaos der unglaublichen
Vielfalt der Bewegungsrichtungen der einzelnen Flüssig-keitsmoleküle
bildet sich ein klares Bewegungsmuster, nämlich eine rechts- oder eine
linksdrehende Flüssigkeitsrolle, heraus, der Ordner "emergiert"
aus dem Zusammenwirken der Mikroelemente. Unter Emergenz wird hier das Hervortreten
neuer Eigenschaften oder Qualitäten verstanden, die auf der Ebene der Mikroelemente
nicht vorhanden sind und nicht aus dem Verhalten einzelner Mikroelemente abgeleitet
werden können: Das rechts- oder linksdrehende geordnete Rollenmuster besitzt
eine neue Eigenschaft, die so auf der Ebene der einzelnen Flüssigkeitsmoleküle
nicht vorhanden ist. Der Ordner selbst ist ein Maß dafür, wie stark
die sich durchsetzende Konfiguration, also die rechts- oder die linksdrehende
Rollenbewegung vorhanden ist. Er zeigt gewissermaßen an, welche der zu-nächst
gleichwertigen und in Konkurrenz tretenden Möglichkeiten (Rechts- oder
Linksdre-hung) letztlich "überlebt".
Gleichzeitig wirkt der Ordner im Sinne einer zirkulären Kausalität
konsensualisierend auf die Gesamtheit der Mikroelemente zurück. Der Ordner
veranlasst die einzelnen
Abb. 2: Grundkonzepte der Synergetik (aus: Hansch, 2004, S. 27)
Flüssigkeitsmoleküle kohärent beim Aufbau und der Erhaltung des
ganzheitlichen Marko-musters zusammenzuwirken. In der Synergetik wird dieser
Konsensualisierungsprozess auch als "Versklavung" bezeichnet: Hat
sich bei der Bérnard-Konvektion beispielsweise die rechtsdrehende Rolle
durchgesetzt (also den Wettbewerb gegenüber der linksdrehenden Rolle gewonnen),
werden die einzelnen Flüssigkeitsmoleküle so in den Prozess des Wär-metransportes
eingebunden, dass sie der Rechtsdrehung folgen. Die Freiheitsgrade der ein-zelnen
Moleküle, die vor der Musterbildung sich in beliebige Richtungen bewegen
können und am Anfang der Musterbildung noch die zunächst offene Alternative
zwischen der Rechts- und der Linksdrehung haben, werden jetzt eingeschränkt.
In diesem Sinne hat Musterbildung auch immer etwas mit Komplexitätsreduktion
zu tun: müssten vor der Musterbildung eine Unzahl von Gleichungen zur Berechnung
der Bewegungen der einzelnen Moleküle erstellt werden, sind nach der Musterbildung
im Fall der Bérnard-Konvektion nur noch drei mathematische Gleichungen
notwendig, um das Verhalten des Bewegungsmusters zu beschreiben.
Der zweite Bereich aus Abb. 2 betrifft die Schranken des Systems, die zwar nicht
direkt an der Dynamik teilnehmen, aber einen indirekten Einfluss auf die haben.
Schranken sind zum einen die relativ stabilen Randbedingungen, die etwa das
System räumlich abgrenzen und dadurch verhindern, dass die Flüssigkeit
nach außen fließen kann. Als weitere Rand-bedingungen können
bei der Bérnard-Konvektion das Schwerefeld der Erde oder die Vis-kosität
der Flüssigkeit gelten. Zum anderen gehören die Kontrollparameter,
die die Einwir-kung der Umwelt auf das betrachtete System beschreiben, zum Bereich
der Schranken. In physikalischen Systemen wie der Bérnard-Konvektion
wird der Kontrollparameter im Sin-ne der energetischen Anregung von außen
an das System angelegt - in unserem Beispiel bildet die Temperaturdifferenz
den entscheidenden Kontrollparameter. Wird die Tempe-ratur erhöht passt
sich in einem unkritischen Bereich das System an die neuen Parameter-werte an,
es passiert qualitativ nichts Neues, etwa wenn die von unten erhitzte Flüssigkeit
weiterhin in Ruhe bleibt. Erst bei einem kritischen Wert des Kontrollparameters,
also einer bestimmten Temperatur, verändert sich schlagartig qualitativ
das Systemverhalten und es entstehen die oben beschriebenen Rollenmuster. Der
Übergang erfolgt somit nicht-linear, sprunghaft. Damit die Strukturbildung
einsetzen kann, benötigt das System einen spezifi-schen Kontrollparameter:
Die Bérnard-Konvektion erfordert Temperaturdifferenzen, kann aber etwa
durch Zuführung von Licht oder Elektrizität nicht hervorgerufen werden
- man kann sagen, dass ein System gewissermaßen auswählt, mit welchen
Anregungen es etwas anfangen kann und welche es "kalt" lassen. Obwohl
der systemadäquate Kontrollparameter wesentlichen Einfluss auf die Anregung
der Musterbildung hat, ist dieser Einfluss nur indi-rekter Natur: die Flüssigkeit
organisiert die makroskopische Struktur selbst und folgt dabei ihrer Eigendynamik,
die vom Ordner und den Gesetzen des Zusammenwirkens bestimmt wird. Der Kontrollparameter
kann aufgrund dieser Eigendynamik dem System keine belie-bigen Strukturen aufzwingen,
sondern es allenfalls zur Bildung systeminhärenter Ord-nungsmöglichkeiten
bewegen.
Und ergänzend: Der Kontrollparameter kann dem System nicht von außen
aufzwingen, welche der systeminhärenten Ordnungsmöglichkeiten es zur
Bildung einer stabilen Struktur auswählt. Im Falle der Bérnard-Konvektion
hat die Tempe-raturdifferenz als Kontrollparameter etwa keinen Einfluss darauf,
ob vom System letztlich die Rechts- oder die Linksdrehung der Flüssigkeitsrollen
realisiert wird. Da hier Zufalls-schwankungen von Bedeutung sein können,
ist die vom System "gewählte" Lösung nicht deterministisch
vorhersagbar. In diesem Zusammenhang muss auf die Nichtlinearität des Zusammenhangs
zwischen der Veränderung der Umgebungsbedingungen, also der Kon-trollparameter
und der Veränderung des Systemverhaltens aufmerksam gemacht werden: Je
nach Systemzustand (und damit der bisherigen "Geschichte" des Systems)
können große Umgebungsveränderungen unter Umständen keine
sichtbaren Wirkungen haben, während andererseits minimale Einflüsse
große Veränderungen veranlassen können. Letzteres wurde im Zusammenhang
mit der synergetischen Modellierung von Wetterverläufen als der „Schmetterlingseffekt“
bezeichnet: Nach diesen Berechnungen kann der Flügelschlag eines Schmetterlings
bewirken, dass ein Hurrikan entsteht. Ist bei der Bérnard-Konvektion
die Flüssigkeit bereits erwärmt, genügt möglicherweise eine
minimale Erhöhung der Tempe-ratur, um den Musterbildungsprozess auszulösen,
bei erkalteten Flüssigkeiten reichen da-gegen vielleicht auch deutlich
höhere Temperatursteigerungen nicht aus, um die Flüssigkeit "in
Wallung" zu bringen. Die aus dem mechanistischen Weltbild abgeleitete Regel,
dass große Wirkungen auf große Ursachen zurückgehen müssen,
gilt im Fall der synergetischen Selbstorganisation nicht.
Wie oben bereits angedeutet, werden bei einer weiteren Erhöhung der Temperaturdifferenz
die Rollenmuster wieder instabil. Es entsteht ein Wabenmuster, bei dem nun drei
Rollen-bewegungen in einer Weise kooperieren, dass die Flüssigkeit in der
Mitte der Wabe auf-steigt und an ihren Rändern wieder absinkt. Solche Momente
des Wechsels der makrosko-pischen Muster - etwa vom Rollen- zum Wabenmuster
- werden in der Synergetik als Pha-sen- oder Ordnungsübergänge bezeichnet.
Diese Ordnungsübergänge sind dadurch ge-kennzeichnet, dass das System
sich zunächst in einem stabilen Zustand befindet, der durch das im Prozess
der Selbstorganisation gebildete Muster bestimmt wird. Durch die Verände-rung
des Kontrollparameters wird dieser stabile Zustand verlassen, das System durchläuft
eine Instabilität und eine Phase neuer kritischer Fluktuationen, um sich
dann wieder in ei-nem neuen Ordnungszustand zu stabilisieren.
Das Stabilitätsverhalten eines komplexen dynamischen Systems wird in der
Synergetik durch das Konzept des Attraktors beschrieben. Hat sich im System
ein Muster gebildet, das einen stabilen Systemzustand ermöglicht, so scheint
es, als ob das System von diesem Zustand wie von einem Magneten angezogen, attrahiert
wird. Deshalb werden diese stabilen Zustände Attraktoren genannt, wobei
jedem Ordner und seinem makroskopischen Muster ein Attraktor zugrunde liegt.
In der Synergetik finden sich zwei Modelle, die die Ordnungsübergänge
bildhaft veran-schaulichen. Als Metapher dient in beiden Modellen die Vorstellung
einer Gebirgsland-schaft, in der Synergetik spricht man von der Potenziallandschaft,
durch die eine Kugel oder ein Ball rollt. Im einfachsten Fall besteht die Landschaft
nur aus einem einzigen Tal, in das die Kugel hineinkullert (vgl. Abb. 3). Landschaft
und Kugel bilden zusammen das System, die Kugel repräsentiert den Systemzustand.
Der tiefste Punkt des Tales, die Talsohle, zieht die Kugel gewissermaßen
zu sich hin, er steht für einen Attraktor. Ruht die Kugel in der Talsohle,
man sagt, dass sie in den Attraktor eingelaufen ist, hat das System einen stabilen
Zustand erreicht.
Abb. 3: Veranschaulichung eines Attraktors (aus Haken & Schiepek, 2006,
S. 80)
Zur Veranschaulichung von Ordnungsübergängen wird nun im ersten Modell angenommen, dass Veränderungen des Kontrollparameters Auswirkungen auf das Verhalten der Kugel haben: Man kann sich vorstellen, das in der instabilen, von Fluktuationen geprägten Phase die Kugel von Zufallsstößen getrieben im Tal umherrollt. Solche Zufallsstöße sind in materiellen Systemen unvermeidliche innere oder äußere Schwankungen, im Falle der Bérnard-Konvektion etwa die thermischen Bewegungen der Flüssigkeitsmoleküle. Bei unkritischen Werten des Kontrollparameters rollt die ausgelenkte Kugel wieder auf ihren alten Platz, die Talsohle, zurück, der dem stabilen Systemzustand entspricht. Während des Abwärtsrollens kommt es zur Selbstverstärkung und Stabilisierung des Ordners, das Mak-romuster ist voll ausgebildet und das System ist wieder stabil, wenn die Kugel in der Tal-sohle zur Ruhe kommt. Soll nun in das Modell der Ordnungsübergang eingeführt werden, muss das Landschaftsmodell erweitert werden: Jedes Tal korrespondiert mit einem (meist mehreren) Bergen.
Abb. 4 zeigt eine Gebirgslandschaft mit mehreren Tälern, die durch einen
Berg getrennt werden.
Abb. 4: Potenziallandschaft mit mehreren Tälern (aus: Kriz, 2003, S. 13)Was
geschieht nun, wenn der Kontrollparameter weiter erhöht wird? Die dadurch
ausge-lenkte Kugel wird wiederum in Bewegung versetzt und verlässt ihren
stabilen Zustand. Jetzt gewinnen aber die fluktuationsbedingten Zufallsstöße,
denen die Kugel ausgesetzt ist, immer mehr an Stärke. Erreicht der Kontrollparameter
den kritischen Wert, wird die Kugel gewissermaßen aus dem Tal gekickt
und sie erreicht den Gipfel des Berges. Dieser Moment entspricht dem Entstehen
einer kritischen Fluktuation, das System befindet sich in einem instabilen Zustand,
es kommt zu einer Symmetriebrechung. Kleinste Zufallseinflüsse reichen
nun aus, damit die Kugel von dem instabilen Zustand, der Position auf dem Gipfel,
in eines der Täler rollt, um dort wieder einen stabilen Zustand einzunehmen,
sobald sie in der Talsohle, dem Attraktor, zur Ruhe kommt. Befindet sich die
Kugel am höchsten Punkt, gibt es in komplizierten Attraktoren-Landschaften
mehrere Möglichkeiten für die weitere Dynamik. Rollt die Kugel dann
aber in ein Tal, wird ein Wechsel immer unwahrscheinlicher, je weiter sie sich
auf diesem Weg voranbewegt, da sie dazu ja dann gewissermaßen erst wieder
über den Berg gehoben werden müsste. Genau dieses muss aber bei einem
Ordnungsübergang geschehen: Die Kugel muss von einem Tal über den
Berg gehoben werden, damit sie in ein anderes Tal rollen kann. Da aber in unserer
Analogie der Gipfel des Berges einen Zustand der Instabilität repräsentiert,
kann eine Änderung der Ordnung ohne eine Phase der Instabilität nicht
erreicht werden.
In dem vorgestellten Modell setzte der Kontrollparameter direkt bei der Kugel
an: die durch die Veränderung des Kontrollparameters erfolgte Energetisierung
verstärkte die Zufallsstöße der Kugel, bis diese aus dem Tal
gekickt wurde. Nun ist es aber auch denkbar, das der Kontrollparameter in erster
Linie an der Landschaft, durch die die Kugel rollt, ansetzt. In dieser Modellvorstellung
wird durch Änderungen des Wertes eines Kontrollparameters die Landschaft
deformiert, wobei drei typische Stadien durchlaufen werden, die in Abb. 5 dargestellt
sind: (1) In ersten Bild existiert nur ein Tal, in dem die herabgleitende Kugel
zur Ruhe kommt. Störungen (Stöße) lenken die Kugel zwar kurzfristig
aus, diese erreicht aber schnell wieder ihre stabile Lage. (2) Bei einem erhöhten
Wert des Kontrollparameters wird nun das Tal sehr flach, was eine instabile
Lage des Systems zur Folge hat: die rücktreibende Kraft ist gering und
die Kugel rollt nur sehr langsam zurück, wenn sie durch zufallsbedingte
Stöße aus dem Gleichgewicht gelenkt wird. Es kommt zu kritischen
Fluktuationen, durch die die Kugel in unregelmäßiger Weise sehr weit
ausgelenkt wird, und - wegen des langsamen Zurückrollens der Kugel - zum
sogenannten kritischen Langsamerwerden. Instabilität zeigt sich hier also
darin, dass sich die Kugel schwer tut, in dem flachen Tal einen eindeutigen
stabilen Punkt - die Talsohle - zu finden, in dem sie zur Ruhe kommen kann.
(3) Überschreitet der Kontrollparameter den kritischen Wert, wird aus der
ursprünglichen Talsohle der Gipfel eines Berges: Die Wände in der
Gebirgslandschaft müssen letztlich wieder ansteigen, da der Ordner, um
eine Auflösung des Systems zu ver-hindern, nicht beliebig groß werden
darf. Die ursprünglich stabile Lage wird im sogenannten Bifurkationspunkt
gänzlich instabil, die Kugel auf dem Gipfel des Berges kann zwei symmetrisch
angeordnete Positionen einnehmen, aber im konkreten Fall nur eine realisieren
(Symmetriebruch). In welches Tal die Kugel rollt, entscheiden kleine, zufällige
Stöße, durch die die Kugel aus ihrer instabilen Lage in ein Tal mit
einer Talsohle - dem neuen Stabilitätspunkt - gekickt wird.
Abb. 5: Veränderung der Potenziallandschaft bei einer Bifurkation (aus:
Strunk & Schiepek, 2006, S. 295)
Die beiden vorgestellten Modelle veranschaulichen den Übergang von Ordnungszuständen
aus Sicht der Synergetik-Theorie. Modell 1 (Kugel wird aus dem Tal gekickt und
rollt in ein anderes Tal) beschreibt dabei den Wechsel zwischen bereits vorhandenen
Ordnern, Modell 2 (das Tal wird flacher und es entsteht eine Bergkuppe, von
der die Kugel in eines von zwei möglichen Tälern rollt) verdeutlicht
das Entstehen neuer Ordner und Attraktoren. Beide Modelle lassen sich auch kombinieren:
die herabrollende Kugel selbst kann das Tal vertiefen, also die Landschaft deformieren.
Hier begegnet uns wieder die Idee der Selbst-verstärkung: je häufiger
die Kugel in ein Tal rollt und je fester sie auf der Talsohle auf-schlägt,
umso tiefer wird das Tal bzw. in der Sprache der Synergetik: umso stärker
wird die Sogwirkung des Attraktors sein, der zu entkommen sich dann immer schwieriger
gestaltet. Die Sogwirkung beruht auf der Entwicklungsdynamik attrahierender
Prozesse, der das Prinzip der Rückkopplung bzw. Iteration zu Grunde liegt:
Eine Operation wie etwa das Rollen der Kugel wird immer wieder auf ihr eigenes
Ergebnis, nämlich die veränderte der Position der Kugel im Tal, angewendet.
Bei Prozessen der Ordnungsbildung führt die Ite-ration zu einem (zumindest
für einen gewissen Zeitraum) stabilen Zustand: die Kugel kommt in der Talsohle
scheinbar zur Ruhe. Scheinbar deshalb, weil die in unserer Vor-stellung ruhende
Kugel weiterhin permanent Schwankungen ausgesetzt ist, die sie in mik-roskopisch
kleinen Bewegungen hält.
Die Wirkung von Rückkopplungen lässt sich anhand einer einfachen geometrischen
Ope-ration veranschaulichen, deren Ergebnis die fraktale Koch-Kurve darstellt.
Für Abb. 6 kann der Operator etwa wie folgt formuliert werden: "Entferne
aus einer Strecke das mittlere Drittel und ersetzte es durch eine Spitze von
60 Grad!" Wird diese Operation nun immer wieder auf ihr Ergebnis angewendet,
so läuft der Prozess der iterativen Abbildung auf einen Attraktor hinaus.
Auf Grund der begrenzten Auflösung des Druckes auf dem Papier stabilisiert
sich das Muster bereits nach wenigen Abfolgen der Operation: zwischen Schritt
5 und 6 ist kein Unterschied mehr erkennbar, unabhängig davon, wie häufig
der Prozess immer wiederholt werden würde.
Abb. 6: Koch-Kurve: die ersten Schritte einer rückgekoppelten geometrischen
Operation (aus Kriz, 2003, S. 11)Abb. 6 macht dabei drei wichtige Eigenschaften
attrahierender Dynamiken deutlich: (1) In fraktalen Mustern lassen sich selbstähnliche
Figuren identifizieren. Bei der Koch-Kurve ist dies das gleichschenklige Dreieck,
welches im mittleren Drittel einer jeden Geraden vor-kommt (vgl. Abb. 6, der
zweite Iterationsschritt). Diese relativ einfache selbstähnliche Teilfigur
lässt sich in jeder komplexeren, durch Rückkopplung entstandenen Kurve
finden und mathematisch als Selbstähnlichkeitsdimension bestimmen (Strunk
& Schiepek, 2006). Entscheidend ist dabei, dass jede selbstähnliche
Teilfigur alle Informationen enthält, die für die Generierung des
komplexen Musters notwendig ist. (2) Das entstehende Muster entwickelt sich
auch, wann man andere Zeichen als "Anfangsbedingungen" wählt:
Nicht das Ausgangsmaterial oder die Konstellation der Anfangsbedingungen, sondern
die Operation ist entscheidend. (3) Wird der Prozess nach Durchführung
einer Operation gestört, indem etwa ein Teil des Bildes zerstört wird,
wird bei einer anschließenden weiteren Ausführung der Iteration aus
dem Restbild wieder die gleiche Form entstehen, auch wenn die Bilder der nächsten
Schritte zunächst völlig anders aussehen. Beliebige Störungen
oder Zerstörungen führen also zum gleichen Endbild, wenn die Operation
selbst nicht geändert wird. Durch Rückkopplung wird ein beliebiger
Teil des Endbildes wieder zum vollständigen Bild komplettiert. Analoges
gilt für die Kugel im Tal: Unabhängig von der Position an einer Talwand,
an der wir sie mit Rollbewegungen anfangen lassen, und auch wenn wir sie durch
Stöße beschleunigen oder ihre Rollbewegungen zwischenzeitlich durch
Festhalten unterbrechen, wird sie letztlich in der Talsohle - dem Attraktor
- zur Ruhe kommen, sofern die "Störungen" sie nicht gänzlich
aus dem Tal kicken.
Synergetische Strukturen zeigen somit ein hohes Maß an Selbstregulation
und Anpas-sungsfähigkeit, die sie ihrer Attraktorstabilität zu verdanken
haben. Bei Störungen wie etwa dem Umrühren mit einem Stab in einer
Flüssigkeit bei der Bérnard-Konvektion wird die Kugel zwar aus der
Talsohle herausgedrückt, die Kräfte des Attraktors führen aber
dazu, dass sie wieder zurückrollt und das System seine alte Struktur und
Stabilität zurückge-winnt. Doch dieses homöostatische Prinzip,
bei dem durch die Realisierung eines Attrak-tors ein konstanter Wert aufrechterhalten
wird, funktioniert nur bis zu einer bestimmten Grenze. Erreichen Kontrollparameter
kritische Werte, kommt es zu einem Zusammenbruch des alten und zur Selbstorganisation
eines neuen Musters, das mit den Randbedingungen und Schranken des Systems besser
verträglich ist. Homöostase wird somit ergänzt durch prozesshafte,
kreative Homöodynamik, wobei dieses Ergänzungsverhältnis schon
im Be-reich der materiellen und erst recht im Feld der lebenden Systeme wechselseitig
gedacht werden muss: Ausschließliche dynamische Anpassungsfähigkeit
würde dazu führen, dass sich Organismen selbst verlieren, immer nur
reagieren, identitätslos und sprunghaft handeln. Offensichtlich benötigen
sie auch Kontinuität und Stabilität und können adaptiv nur innerhalb
bestimmter homöostatischer Grenzen agieren und sich etablieren. Für
ihr Über-leben müssen sie dem dialektischen Prinzip einer homöodynamischen
Stabilität (Haken & Schiepek, 2006) folgen, wie es im Rahmen der Synergetik-Theorie
formuliert wird.
Die neuronale Matrix als Arbeitsebene der Synergetik-Therapie
Die oben dargestellten Prinzipien wurden von Bernd Joschko auf die Synergetik-Therapie
angewendet. Dabei ging Joschko von der Idee aus, dass die Funktionsweise unseres
Gehirns nach synergetischen Grundprinzipien organisiert ist und deshalb therapeutische
In-terventionen Einfluss auf die synaptischen Verbindungen im Gehirn nehmen
müssen, da diese Verbindungen unsere mehr oder weniger befriedigenden Erfahrungen
im Vollzuge ihrer Selbstorganisation generieren.
Das menschliche Gehirn besteht aus Myriaden von Nervenzellen, man schätzt,
dass unge-fähr 100 Milliarden Neuronen zusammen das Gehirn bilden. Ein
Neuron kann über "Lei-tungen" mit bis zu 10000 anderen Neuronen
verknüpft sein, es entsteht ein gewaltiges neu-ronales Netzwerk. Die Verbindungen
zwischen den fadenartigen Fortsätzen der Nerven-zellen (Dentriten, Axon)
heißen Synapsen. Sie übertragen elektrische Impulse und chemi-sche
Substanzen, die Neurotransmitter, wobei die Stärke der Erregungsübertragung
durch verschiedene Mechanismen verändert werden kann. Aus unserer Sicht
lassen sich diese Übertragungen als eine besondere Form der Informationsübermittlung
verstehen, wobei sowohl die Verarbeitung eingehender Signale im Neuron wie auch
die Signalübertragung zwischen den Neuronen in nichtlinearer Weise erfolgt:
Komplexe Feedbackmechanismen sind innerhalb und zwischen den Zellen verankert.
Eine vergleichsweise große Zahl von Neuronen ist mit der systeminternen
Verarbeitung der Signale befasst, weniger Neuronen dagegen mit der Verarbeitung
von außen einkommender, über die Rezeptoren erfasster (afferenter)
bzw. nach außen abgehender (efferenter) Signale (Roth, 2001).
Ist die im Verlauf des Evolutionsprozesses herausgebildete Formung der Gehirnstruktur
stark von den Genen gestimmt, so kommt es während unserer Individualentwicklung
(On-togenese), innerhalb des neuronalen Netzes zu höchst individuellen
Ausprägungen und Modifikationen der Verschaltungen zwischen den Neuronen:
Durch individuelle Lerner-fahrungen können die synaptischen Übertragungsstärken
vergrößert oder verkleinert wer-den, es kommt zu Verstärkungen
oder Abschwächungen der synaptischen Kontakte im Netzwerk der Nervenzellen.
Solche Anpassungsvorgänge an die Lebenserfahrungen eines Organismus, die
auf der molekularen Ebene zu Umstrukturierungen des Gehirns führen, werden
als Neuroplastizität bezeichnet. Wir entwickeln somit im Laufe unseres
Lebens ein individuelles Muster synaptischer Stärken, das den in der Phylogenese
entworfenen, bei allen Menschen ähnlichen, und in der Morphogenese entfalteten
"Rohbau" des Gehirns individuell ausformt. Je häufiger diese
Muster aktiviert werden, desto stabiler und automa-tisierter werden die Abläufe.
Heute geht man davon aus, dass die synaptischen Übertra-gungsstärken
die materielle Grundlage für unser Langzeitgedächtnis bilden. Auch
wenn besonders sensible Phasen für die Ausbildung und Stabilisierung der
neuronalen Muster vor allem im Kindesalter liegen, sind auch im späteren
Lebensalter Modifikationen möglich. Ohne Neuroplastizität - die neurobiologische
Grundlage für Lernen und Verlernen - wären die durch die Synergetik-Therapie
angestrebten Veränderungen überhaupt nicht erreichbar.
Der individuelle "Schaltplan" unserer Muster synaptischer Übertragungsstärken
unter-scheidet sich grundsätzlich von den Schaltplänen, wie sie die
klassische Hirnforschung im Rahmen des mechanistischen Weltbildes und angelehnt
an die Maschinenmetapher ent-worfen hat (Hansch, 2004). Bei einer Maschine wie
etwa dem Computer wird die Funktion durch die Struktur vollständig bestimmt:
Form, Anordnung und Verknüpfung der starren Teile legen das Verhalten der
Maschine auf eine oder wenige ausgewählte Möglichkeiten fest. Kennt
der Techniker den Schaltplan des Computers, weiß er, welches Ergebnis
bei welchen Eingriffen in den Schaltplan zu erwarten ist. Taugen solche Maschinen
hervorra-gend für die Lösung von Aufgaben, die festen Regeln unterliegen,
oder die Herstellung von normierten Produkten, so scheitern sie, wenn sie mit
sich wandelnden Aufgabenstellungen konfrontiert werden, da ihnen aufgrund der
starren Verknüpfung der Bausteine Anpassungsfähigkeit und Kreativität
fehlen. Man denke etwa an einen Roboter, der mit hoher Geschwindigkeit eine
instabile Geröllhalde hinunterlaufen soll. Bis heute kann noch kein Roboter
diese Aufgabe, die von einer aufgeschreckten Bergziege ohne Probleme gelöst
wird, bewältigen.
Gehirne von Bergziegen und erst recht die von Menschen funktionieren offensichtlich
an-ders. Mit Normaufgaben, wie etwa dem Kopfrechnen oder dem mechanischen Folgen
der Regeln der Logik haben die meisten von uns ihre Probleme. Dagegen meistern
wir den Umgang mit unklaren, komplexen und kontinuierlich variierenden Situationen
meistens weitaus besser, wie das Beispiel des Laufens auf einer Geröllhalde
oder auch das Treffen von Entscheidungen in Konstellationen, bei denen einige
Komponenten unscharf oder un-bekannt sind, zeigen. Noch schwerer fällt
uns die Lieferung von Normprodukten: die gleiche Bewegung auf exakt die gleiche
Art und Weise zu wiederholen, einen Gegenstand wirklich zweimal in der gleichen
Weise wahrnehmen, den gleichen Gedanken zwei- oder mehrmals auf dieselbe Weise
denken - all dies ist kaum, vielleicht überhaupt nicht für uns möglich,
da wir - wie Heraklit schon wusste - niemals zweimal in den gleichen Fluss steigen
können. Aber dafür können wir neue Strukturen und Verhaltensmuster
erfinden, wenn im kontinuierlichen Fluss der Veränderung auftretende Unterschiede
zwischen der Umwelt und dem Selbst nicht mehr durch Anpassung ausgeglichen werden
können. Auch dieser Aspekt der Kreativität unterscheidet uns von den
Maschinen und spricht dafür, die Funktionsweise des Gehirns mit Hilfe synergetischer
Überlegungen zu modellieren. Offensichtlich sind die funktionellen Strukturen
in Gehirnen von Lebewesen nicht fest verdrahtet, wie dies bei den Computern
oder Maschinen der Fall ist. Wie wir schon oben gesehen haben, verändern
sich durch Lernerfahrungen aufgrund der Neuroplastizität des Gehirns die
synaptischen Übertragungsstärken und damit unser innerer "Schaltplan"
im Laufe unseres Lebens. Wie kann man sich nun die Arbeitsweise eines solchen
Gehirns vorstellen? Am verbreitetsten ist die Metapher eines Netzwerkes, in
dem die miteinander verbundenen Neuronen wie Oszillatoren funktionieren: Die
Nervenzellen sind nicht einfache Schalter, für die es nur die Stellung
"An" und "Aus" gibt, sondern sie können mit einer bestimmten
Frequenz, also mal schneller und mal langsamer oder auch mal stärker und
mal schwächer, feuern. Wir können uns die einzelne Nervenzelle wie
eine Leuchtboje vorstellen, die nicht nur an oder aus sein kann, sondern unterschiedlich
schnell und mit unterschiedlicher Leuchtkraft blinkt. Dem Gehirn entspricht
in diesem Vergleich nun ein Ozean, auf dem eine unübersehbare Anzahl dieser
miteinander verbundenen Leuchtbojen schwimmt. Durch die wechselseitige Verbindung
ergibt sich interessante Wechselwirkungen zwischen den Oszillatoren, also den
Leuchtbojen: Sie zeigen eine durch Selbstorganisation ausgelöste Tendenz
zur Synchronisation ihrer Blinkaktivität. In bestimmten Bereichen des Leuchtbojenfeldes
können wir beobachten, wie sich das Blinken und die Leuchtstärke einzelner
Birnen angleichen. Aus dem chaotischen Durcheinander entwickelt sich so eine
Vielfalt geordneter Blinkmuster als Ensembles nichtlinear gekoppelter Oszillatoren.
Entsprechend dieser Vorstellung kommt es im Gehirn durch synergetische Selbstorganisation
zu einer Angleichung der Aktivitäten einzelner Neuronengruppen, die dadurch
Synchroni-sationsmuster bilden, die wiederum bestimmten Attraktoren entsprechen.
Diese funktio-nellen Strukturen im Gehirn haben somit zwar ein materielle Basis
in Form elektrochemischer Prozesse, die durch den Aufbau der Neuronen und die
im Laufe gebildeten synapti-schen Kopplungsstärken mitbestimmt wird. Aber
diese materielle Basis legt - im Unter-schied zu den festen Verdrahtungen im
Computer oder in den Maschinen - nicht fest, wel-che Synchronisationsmuster
neuronaler Aktivität sich im konkreten Fall im Vollzug der Selbstorganisation
realisieren. Die materiellen Grundlagen unseres Gehirns haben somit lediglich
als Schranken einen indirekten Einfluss auf die Synchronisationsdynamik der
zu einem bestimmten Zeitpunkt beobachteten Gehirnaktivität.
Bevor wir eine weitere solche Schranke kennen lernen, wollen wir eine für
die Synergetik-Therapie entscheidende Überlegung ausführen, die durch
die Befunde der modernen expe-rimentellen Hirnforschung zunehmend belegt wird:
es sind die Synchronisationsmuster der neuronalen Aktivität, die unsere
mehr oder weniger bewussten psychische Inhalten, also unsere Wahrnehmungen,
unser Denken, unsere Gefühle und auch unsere motorischen Pro-zesse tragen.
In der Sprache der Synergetik-Therapie bilden die neuronalen Synchronisati-onsmuster
die neuronale Matrix des Klienten, die als Ausgangspunkt und Arbeitsebene für
den synergetischen Therapieprozess verstanden wird. Die in der neuronale Matrix
enthal-tenen Muster der Gehirnaktivität bilden die Mikroebene aus der makroskopische
Muster des psychischen Erlebens und des Verhaltens emergieren. Die neuronalen
Mikroprozesse bleiben zwar auf der psychischen Ebene vollständig ausgeblendet
- wir haben ja keine di-rekte Wahrnehmung unserer neuronalen Aktivität
- aber im Sinne des Konsensualisie-rungsphänomens der Synergetik lässt
sich annehmen, dass das auf der Makroebene ange-siedelte psychische Erleben
rückwirkend Einfluss auf die neuronalen Synchronisations-muster nimmt,
hier "versklavend" wirkt und so indirekt einen Beitrag zur Bildung
synapti-scher Kopplungsstärken leistet. Aus dieser Sicht sind die Beziehungen
zwischen Geist und Körper so zu verstehen, dass die psychischen Inhalte
aus den neuronalen Synchronisati-onsmustern emergieren und gleichzeitig als
die Ordner für diese neuronalen Prozesse fun-gieren (Hansch, 2006). Im
Rahmen der Synergetik-Therapie erreichte Veränderungen im psychischen Erleben
können somit eine Rückwirkung auf die neuronalen Synchronisati-onsdynamiken
haben, aus denen dieses psychische Erleben emergiert ist. Auf diese Weise hat
die Synergetik-Therapie eine tiefgreifende Auswirkung auf neuronales Geschehen,
indem sie zu veränderten neuronalen Synchronisationsmustern und in weiterer
Folge zur Modifikation der synaptischen Übertragungsstärken und damit
zur Veränderung der mate-riellen Grundlage unseres Langzeitgedächtnisses
beitragen kann. Um die bereits konsoli-dierten neuronalen Synchronisationsmuster
wieder zu verändern ist freilich eine höhere Aktivität des Gehirns
erforderlich, durch die die vorhandenen Muster zunächst destabili-siert
werden müssen, um sich dann durch die assoziative Verknüpfung mit
weiteren Infor-mationen selbst neu zu organisieren. Auch wenn die Forschung
zunehmend Belege für die synergetische Modellierung der Gehirnprozesse
sammelt, sind diese Überlegungen zu den Wirkungen der Synergetik-Therapie
zum jetzigen Zeitpunkt noch spekulativer Natur und bedürfen der wissenschaftlichen
Überprüfung.
Die Bedeutung der Umwelt
Neben den inneren Schranken, die sich aus dem phylogenetischen Aufbau des Gehirns
und die im Verlauf der Ontogenese durch Erfahrungen modifizierten synaptischen
Übertra-gungsstärken ergeben, stellt die Umwelt eine weitere Schranke
für die dynamischen Mus-terbildungsprozesse im Gehirn dar: In unterschiedlichen
Umwelten werden sich in der Regel auch unterschiedliche Muster herausbilden.
Nun kann man diese scheinbar plausible Aussage nicht so einfach stehen lassen,
da sich hinter ihr die ungelöste philosophische Kontroverse um den Realismus
und Konstruktivismus, d. h. die Frage nach der Existenz und der Erkennbarkeit
einer objektiven, vom Beobachter unabhängigen, also transphäno-menalen
Realität und Umwelt, verbirgt. Auch die Synergetik-Therapie wird diese
Frage nicht entscheiden können, letztlich aber aus pragmatischer Perspektive
auch nicht ent-scheiden müssen. Vielmehr genügt es, von der Existenz
einer solchen Realität auszugehen, gleichzeitig aber die prinzipielle Unmöglichkeit
der Erkennbarkeit einer solchen transphä-nomenalen Realität anzuerkennen:
Diese Realität muss uns unzugänglich bleiben, weil wir die Brille
unserer Sinne, durch die wir auf die scheinbar objektiv gegebene Welt blicken,
nicht ablegen können. Und da es keinen archimedischen Punkt außerhalb
unserer Erfah-rungswelt gibt, von dem aus wir entscheiden könnten, ob es
diese transphänomenale Rea-lität gibt oder nicht, bleibt die Annahme
der Existenz einer solchen Realität eine hypotheti-sche Setzung, die sich
allerdings als ausgesprochen viabel erweist.
Für Synergetik-Therapeuten entsteht die Wirklichkeit der Klienten im Kopf
und - etwas weiter gefasst - im Körper: Es ist die Innenwelt des Klienten,
die im Verlauf der Synergetik-Therapie-Sitzungen aufgedeckt, zugänglich
gemacht und durch den Klienten im Vollzug des Selbstorganisationsprozesses verändert
werden soll. Wir bewegen uns somit immer in der Erfahrungswelt, die Frage der
Existenz der transphänomenalen Realität erscheint hier vollkommen
ohne Bedeutung und kehrt doch wieder durch die Hintertür ins Geschehen
zurück: Sowohl unsere Klienten als auch wir selbst als Therapeuten verhalten
uns wie naive Realisten, indem wir eine Wirklichkeit konstruieren, in der die
selbstverständliche Gegebenheit einer Außenwelt fester Bestandteil
ist. Die Reize für die Wahrnehmung, die physikalisch-gegenständlichen
Umwelteigenschaften für die Motorik, die "unverrückbaren Tatsachen"
für das Denken werden alle von uns in dieser Außenwelt, die unabhängig
von unseren eigenen Gehirnprozessen zu existieren scheint, lokalisiert. Dass
die äußere Welt so ist, wie wir sie wahrnehmen, wird von uns in der
Regel damit begründet, dass diese externe Welt eben genau die Eigenschaften
und Eigenarten hat, die wir wahrnehmen. Hier haben wir die Hintertür, durch
die sich nicht nur die Annahme der Existenz einer transphänomenalen Umwelt,
sondern auch ihre Erkennbarkeit und Abbildbarkeit in unser Denken und Fühlen
einschleicht. Demgegenüber kann man den konstruktivistischen Philosophen
und der modernen Hirnforschung folgend zeigen, dass dieses Außen erst
durch die neuronale Matrix des Gehirns geschaffen wird. Offensichtlich verfügen
wir über Mechanismen, durch die diese Außenwelt zu einer realen,
d. h. scheinbar transphänomenalen Erfahrung wird und die gleichzeitig unsere
konstruktiven Anteile beim Erschaffen der Wirklichkeit ausblenden. Gestaltpsychologisch
orientierte Autoren wie M. Stadler und P. Kruse (1990) haben eine Reihe von
syntaktischen, semantischen und pragmatischen Wirklichkeitskriterien herausgearbeitet,
die zeigen, wie wir es fertig bringen, dass uns die äußere Welt als
selbstverständlich und mehr oder weniger sicher gegeben erscheint. Dazu
gehören etwa die intermodale sensorische Übereinstimmung (man kann
den sichtbaren Gegenstand auch anfassen und auf ihn einwirken), die Bedeutungshaltigkeit
und Kontextstimmigkeit (der Gegenstand passt in einen sensorischen oder sinnbezogenen
Kontext), die Übereinstimmung mit unseren Erwartungshaltungen oder auch
die intersubjektive Bestätigung durch wichtige Referenzpersonen. Unser
Gehirn nutzt meist unter Verwendung des Konsistenzprinzips diese Kriterien,
um zwischen Innen und Außen, zwischen Real und Fiktiv oder auch zwischen
Sein und Schein zu unterscheiden und sich so ein Erfahrung von "Realität"
zu konstruieren. Sollen wir uns aber aufgrund dieser Überlegungen zu dem
Glauben durchringen, dass es überhaupt keine vom Subjekt unabhängige
Realität geben kann und damit die dem Realismus konträre Position
des Solipsismus übernehmen?
Selbst radikale Konstruktivisten wie E. von Glasersfeld scheuen sich davor
und schlagen eine Lösung vor, die mit unseren Überlegungen zur Schrankenfunktion
der äußeren Umwelt kompatibel ist. Erkenntnisse über die Beschaffenheit
unserer Erfahrungswelt müssen demnach nicht als ikonische Übereinstimmungen
mit einer transphänomenalen Realität verstanden werden, sondern als
passende Verhaltensweisen und Denkarten, die aufgebaut werden, um den an sich
formlosen Fluss des Erlebens soweit wie möglich in wiederholbare, regelmäßige
Erlebnisse und relativ verlässliche Beziehungen zwischen diesen zu ordnen.
"Passen" heißt hier, dass sich die Existenz einer transphänomenalen
Realität genau dort zeigt, wo unsere Konstruktionen scheitern, wo also
der Versuch, die gesetzten Schranken zu überwinden zu einer Auflösung
des konstruierenden und erkennenden Systems führt. Die "Überlebenden"
können dieses Scheitern aber nur in den Begriffen beschreiben und erklären,
die sie zum Bau der scheiternden Strukturen verwendet haben und damit kein Bild
einer transphänomenalen Welt, die für das Scheitern verantwortlich
gemacht werden könnte, vermitteln. Es bleibt nur, diese Grenze als Ausdruck
einer nicht erkennbaren transphänomenalen Realität zu akzeptieren.
Wenn wir aber für die Ausgestaltung unserer Wirklichkeitssicht nicht eine
transphänomenale Realität verantwortlich machen können - was
wir als naive Realisten nach dem Motto "was passt muss auch (mit der transphänomenalen
Realität überein-)stimmen" permanent tun - müssen wir, und
auch hier stimmen Konstruktivismus und Synergetik-Therapie überein, die
Verantwortung für unsere Wahrnehmung, Interpretation und Bewertung der
Wirklichkeit in uns selbst, in unseren auf die Welt bezogenen Konstruktionen
suchen. Es gilt auf einer ganz basalen Ebene die Ei-genverantwortung für
Denken, Fühlen und Handeln zu übernehmen. In diesem Sinne ist eine
konstruktivistische Denkweise, die von der Existenz einer transphänomenalen
Realität ausgeht, gleichzeitig aber ihre Erkennbarkeit und Abbildbarkeit
bestreitet, mit der syner-getischen Sichtweise der Schrankenfunktion einer äußeren
Umwelt kompatibel: die äußeren Reize können nur indirekten Einfluss
auf unsere Konstruktionen, die sich im eigendy-namischen Prozess der Gehirnaktivität
herausbilden, nehmen. Der Reiz legt nicht fest, was wir wahrnehmen, sondern
fungiert im Wahrnehmungssystem allenfalls als indifferente elektrische Stimulation,
die erst im System selbst mit Bedeutung versehen wird. Als erken-nende Systeme
können wir zwar annehmen, dass diese äußeren Reize auf uns wirken,
den transphänomenalen Realitätscharakter der Reize können wir
aber nicht entschlüsseln, da wir ja nur mittels der im Vollzug der Selbstorganisation
hervorgebrachten Konstruktionen - gewissermaßen unserer "Brille"
- Zugang zu dem Reiz in der äußeren Umwelt haben. Auch wenn es plausibel
erscheint, dass unterschiedliche Reizkonstellationen mit unter-schiedlichen
Wirklichkeitskonstruktionen einhergehen, bleibt die Beziehung zwischen Reiz
und Konstruktion indirekter Natur, wie uns etwa die aus der Gestaltpsychologie
bekannten Kippbilder von Vase und Gesichter, Hase und Ente oder junge und alte
Frau zeigen. Hier haften dem gleichen Reiz unterschiedlichen Bedeutungen an,
da die Reizschranken mit zwei symmetrischen Interpretationsmustern vereinbar
sind. Ähnlich wie bei der Bérnard-Konvektion die links- bzw. rechtsdrehenden
Flüssigkeitsrollen gut zwischen eine bestimmte Schrankenkonstellation passte,
sind es bei den Kippbildern zwei Attraktoren (etwa die Vase oder die Gesichter),
zwischen denen die neuronale Interpretationsdynamik hin- und herspringt.
Aus dieser Sicht geht Synergetik-Therapie von der Existenz einer äußeren
Umwelt aus, die als Schranke indirekt Auswirkungen auf unsere Konstruktionen
von Realität hat. Unsere Konstruktionen müssen sich innerhalb des
durch die Existenz dieser Umwelt begrenzten Raumes als überlebensfähig,
als viabel erweisen, was aber nicht bedeutet, dass diese Kon-struktionen im
realistischen Sinn Abbildungen einer transphänomenal gegebenen Realität
sind. Die transphänomenale Realität erfahren wir allenfalls, wenn
unsere Konstruktionen diese Schranken überschreiten, da es dann zur psychischen
oder körperlichen Auflösung des konstruierenden Systems kommt. Gleichzeitig
können wir innerhalb dieses Schranken-bereichs nahezu unerschöpfliche
Konstruktionen von Wirklichkeit entfalten, für die wir - auch wenn es uns
schwer fallen mag - die Verantwortung zu übernehmen haben. Und manchmal
können wir beim Prozessieren unserer Wirklichkeitskonstruktionen die Erfah-rung
machen, dass scheinbar unüberwindbare Schranken in vorgegebenen Grenzen
auch überschritten werden können. Freilich sind dies dann die Schranken,
die wir uns in unserer Erfahrungswelt selbst auferlegt haben und die nicht mit
der uns letztlich begrenzenden Umwelt verwechselt werden dürfen.
Die Synergetik-Therapie stellt somit einen Rahmen zur Verfügung, in dem
der Klient eine zu seiner in der neuronalen Matrix abgespeicherten Sichtweise
von Wirklichkeit alternative Sichtweisen konstruieren kann. Günstig erscheint
es dabei, wenn im therapeutischen Pro-zess der konstruktive Anteil ausgeblendet
wird und die neue Wirklichkeitsperspektive als „wirkliche“ und nicht
nur als eingebildete Wirklichkeit erlebt wird. Dieses ist möglich, da das
Gehirn als operational geschlossenes System nicht ohne weiteres zwischen Aktivierun-gen
durch äußere (reale) und imaginierte Ereignisse unterscheiden kann:
Sowohl bei der Wahrnehmung als auch bei der Vorstellung von sensorischen Material
steigt nachweislich die lokale Hirndurchblutung in den Arealen, die an der entsprechenden
sensorischen In-formationsverarbeitung beteiligt sind. Damit können die
in der Innenwelt auftauchenden Erlebnisse und Interaktionen durchaus wie die
Erlebnisse in der Außenwelt als real erfahren werden, insbesondere wenn
sie den oben genannten Wirklichkeitskriterien von Stadler und Krause folgen.
Auch in der Innenwelt werden Erfahrungen mit unterschiedlichen Sin-nesmodalitäten
gemacht, die sich wechselseitig stimmig zu einem passenden Gesamtein-druck zusammenfügen,
Personen und Objekte werden zumeist in einem dreidimensionalen Raum lokalisiert,
sind je nach Beschaffenheit invariant und bewegen sich aus sich selbst heraus
bzw. relativ zu unseren eigenen Bewegungen in der Innenwelt. Gleichzeitig beseelen
wir sie durch affektive Bedeutungszuschreibungen, die sie für uns mehr
oder weniger attraktiv und damit umso ausdrucksvoller und lebendiger machen.
Und letztlich gelingt es uns auch in der Innenwelt mit den als bedeutungsvoll
wahrgenommenen Personen und Objekten in der interaktiven Auseinandersetzung
Handlungen zu vollziehen, von denen beobachtbare Wirkungen ausgehen. All dies
schafft den Eindruck einer Wirklichkeit, die als selbstverständlich gegeben
und evident vorhanden erfahren wird - zumindest solange man sich nicht durch
reflektierendes Nachdenken über ihre Entstehung aus ihr zurückzieht.
Diese Erfahrungen aber ermöglichen, wenn sie sich von den ursprünglichen
Erfahrungen signifikant unterscheiden, eine Reorganisation der neuronalen Verschaltungen
und werden so als strukturell veränderte Gedächtnisspuren abgespeichert.
Freilich: Wären unsere Wahrnehmungen keine Konstruktionen, sondern Abbilder
einer transphänomenal gegebenen Realität, dann wäre unsere Wirklichkeit
fixiert ohne Möglichkeit des Andersseins und eine veränderte Sichtweise
und eine neues Erleben als Wirkung der Erfahrungen in der Innenwelt wären
nicht zu erklären.
Um diese Überlegungen anschaulich zu machen, betrachten wir zum Abschluss
dieses Ka-pitels das Beispiel des multistabilen Musters in Abb. 7, dass uns
verdeutlicht, wie schnell Übergänge zwischen kohärenten Mustern
in der menschlichen Wahrnehmung geschehen können. Betrachten wir das Bild
mit ungerichteter Aufmerksamkeit, so erkennen wir eine oder mehrere Rosetten
bzw. Blütenformen. Allerdings erscheinen diese kaum fixierbar, sondern
springen wieder in eine andere Form hinüber, von dort wieder in eine
Abb. 7: Multistabiles Muster (aus Stadler et al., 1997)
andere Form und so weiter. Da die sich die äußere Form der Abbildung,
die physikalische Stimulation, nicht ändert, sind es die Effekte der Eigendynamik
des Wahrnehmungssys-tems, die sich hier offenbaren. Die Außenreize, die
vom Auge wahrgenommen und an das Gehirn übermittelt werden, haben für
die Wahrnehmung lediglich die Funktion von Schranken. Die interpretierende Dynamik,
die sich um das Erkennen von Regelmäßigkeiten bemüht, versucht
sich zwischen den Reizschranken zu stabilisieren. Sind es bei den gestaltpsychologischen
Kippbildern (wie etwa Vase und Gesichter) meist zwei relativ sta-bile Attraktoren,
zwischen denen die neuronale Interpretationsdynamik hin- und her wech-seln kann,
erleben wir bei dem multistabilen Muster aus Abb. 7 gegen ein ständiges
Fluk-tuieren im Wechsel mit kurzzeitigen Musterbildungen. Als Kontrollparameter
kommen Prozesse der Aufmerksamkeitsregulation in Frage, durch die die Aufmerksamkeit
mal mehr ungerichtet, dann wieder stärker fokussierend auf die Abbildung
gelenkt wird. Die Schwankungen in der neuronalen Aktivität des Gehirns
"kicken" das Muster aus seiner kurzzeitigen Stabilität in einen
anderen, wiederum nur vorübergehend stabilen Zustand. Beim Betrachten der
Abbildung wird auch das Konsensualisierungsphänomen der Syner-getik erlebbar:
Haben sich an irgendeiner Stelle einige Teilelemente in bestimmter Weise zusammengeschlossen,
kommt es zu einer emergenten Ausbildung eines Ordners, und der Zusammenschluss
dehnt sich sofort durch Konsensualisierung auf die anderen Kreisele-mente aus.
Es kommt zur Komplettierung der Attraktordynamik, indem das Bild einer Ro-sette
oder Blütenform erkennbar ist. Freilich besteht - zumindest beim erstmaligen
Be-trachten der Abbildung - die der Dynamik zugrunde liegende Attraktorlandschaft
aus vielen und eher flachen Attraktormulden, durch die die Kugel von Zufallsstößen
getrieben hin und her rollt, ohne längere Zeit in einer der Mulden zur
Ruhe zu kommen. Die Reize bilden auch hier die Schranken für die neuronale
Dynamik, die nach möglichst einfachen Wegen der Einpassung und Deutung
sucht. Betrachten wir das Bild allerdings häufiger, werden auf der Ebene
unserer subjektiven Erfahrung die Rückwirkungen dieser Dynamik auf die
synaptischen Übertragungsstärken, die ja eine weitere Schranke für
die Interpretati-onsdynamik bilden, deutlich: es fällt uns zunehmend leichter
in bestimmten Bereichen der Abbildung die Rosetten oder Blüten ausfindig
zu machen. Offensichtlich vertiefen sich die in Folge der Vorerfahrungen die
entsprechenden Attraktormulden.
Fassen wir zusammen: Die neuronale Matrix als Arbeitsebene der Synergetik-Therapie
emergiert aus dem selbstorganisierten Zusammenwirken neuronaler Aktivität.
Dabei ent-wickelt sie sich zwischen den feststrukturellen Innenschranken des
Gehirns, die durch den im Verlauf der Phylogenese erworbenen Rohbau des Gehirns
und durch die im Vollzug von Erfahrungen bewirkten Veränderungen der synaptischen
Übertragungsstärken vorgegeben werden, und den Außenschranken
einer als existent angenommenen Umwelt. Zwischen diesen Fronten sucht der Fluss
des Erlebens und Verhaltens nach optimaler Anpassung an die Randbedingungen,
angemessener Attraktorstabilität und kreativer Problemlösung. Gleichzeitig
wirkt er auf diese Schranken zurück, indem er Veränderungen in der
Umwelt kreiert und die Muster synaptischer Übertragungsstärken beeinflusst.
Ordnungen der Lebenswelt als Muster
Die neuronale Matrix erschafft - Konstruktivisten würden sagen: erfindet
- im Vollzug der selbstorganisierten Prozesse eine Sichtweise von Wirklichkeit,
die wir als mehr oder weni-ger sicher, selbstverständlich und gegeben wahrnehmen.
In der Sprache der Phänomenologie entsteht durch die neuronale Aktivität
eine Ordnung der Lebenswelt, in der durch die Emergenz von Ordnern und die Sogwirkung
der Attraktoren der unendlichen Komplexität des Weltvollzuges Regelmäßigkeiten
abgerungen werden können: Durch die Bildung von Mustern, seien sie nun
er- oder gefunden, können wir durch Komplexitätsreduktion dem Chaos
zumindest zeitweise und in bestimmten Bereichen entgehen. Als Hintergründe
für diese Musterbildungen mögen evolutionäre Programme oder auch
unsere soziale und kul-turelle Einbettung dienen, innerhalb derer unsere Muster
passen müssen (Kriz, 2003).
Den Zwang zur Bildung von Ordnungen hat die Psychologie in zahlreichen Experimenten
herausgearbeitet, in denen "objektiv" den Versuchspersonen kein Muster
vorgegeben wurde und diese trotzdem Ordnungsstrukturen in den Reizvorlagen zu
entdecken glaubten. Schon auf der untersten Wahrnehmungsebene werden Reize zu
Gestalten organisiert, wie etwa ein altes Experiment von Scheffler (1959) verdeutlicht:
In einer Matrix von zehn mal zehn Lampen, von denen jede einzelne über
einen Zufallsgenerator gesteuert wird und die deshalb völlig regellos aufleuchten,
sieht der Betrachter keine zufällig aufblitzenden Lichter, sondern "bewegte
Gebilde bzw. Gestalten". Und in Michotte's (1954) Versuchen zur Kausalitätswahrnehmung
rufen bewegte geometrische Figuren unter bestimmten Bedin-gungen den zwingenden
Eindruck "kausaler Verursachungen" hervor: Trifft eine bewegte Kugel
A auf eine ruhende Kugel B und bewegt sich B danach weiter fort, so wird die
Be-wegung von B auf die vorherige Bewegung von A und das Auftreffen von A auf
B zurück-geführt, freilich erst, wenn A eine bestimmte Richtung und
Geschwindigkeit erreicht hat und die Bewegung von B hinsichtlich Richtung und
Geschwindigkeit zu der der Kugel A passt.
Andere Beispiele, in denen komplexere Musterbildungsprozesse offenbar werden,
sind die "noncontingent reward experiments", bei denen kein Zusammenhang
zwischen dem Ver-halten der Versuchsperson und der Bewertung dieses Verhaltens
seitens des Versuchsleiters besteht, was allerdings der Versuchperson nicht
bekannt ist. Watzlawick (1978) stellt einen solchen Versuch von Alex Bavelas
vor, bei dem zwei Versuchspersonen A und B gleichzeitig eine Reihe von Mikrodiapositiven
von kranken und gesunden Gewebezellen vorgegeben wurde. Die Aufgabe bestand
nun darin, durch Versuch und Irrtum zu lernen, die gesunden Zellen von kranken
Zellen zu unterscheiden. Dazu musste jede Versuchsperson bei jedem Bild durch
Drücken eines Knopfes (krank bzw. gesund) ihre individuelle Einschätzung
bekannt geben, woraufhin sofort ein Lämpchen "richtig" oder "falsch"
auf-leuchtete. Für Person A war die Situation relativ einfach: Sie erhielt
jedes mal eine zutref-fende Rückmeldung auf ihre Diagnose, das heißt,
das Aufleuchten des Lämpchen "richtig" oder "falsch"
teilte ihr mit, ob sie das Diapositiv im medizinisch korrekten Sinn beurteilt
hatte. Entsprechend erlernten die A-Versuchpersonen im Verlauf des Experimentes
durch Versuch und Irrtum die ihnen bisher unbekannte Unterscheidung von kranken
und gesunden Zellen. Ungleich schwerer wurde - natürlich ohne ihr Wissen
- die Situation von B gestaltet: Die Rückmeldungen richtig/falsch beruhten
nicht auf der eigenen Einschätzung des Diapositivs, sondern auf denen der
Einschätzungen von A.
Es war daher im Sinne des Nichtkontingenz-Paradigmas völlig gleichgültig,
wie Person B ein Diapositiv diagnosti-zierte. Sie erhielt die Antwort "richtig",
wenn A den Gesundheitszustand der gezeigten Zelle richtig erriet; wenn sich
A dagegen irrte, erhielt auch B die Antwort "falsch", unge-achtet
der Diagnose, die B selbst gestellt hatte. Da Person B aber keine Ahnung von
diesem fehlenden Zusammenhang zwischen ihrer Einschätzung und der Rückmeldung
hatte, versuchte sie genau wie A, eine Ordnung zwischen den dargebotenen Zellen
und der Diag-nose "krank/gesund" zu entdecken - eine Ordnung, von
der wir wissen, dass sie besteht und von A auch erkannt wird, die aber für
B auf Grund der Versuchsanordnung nicht zugänglich ist. Nach der "Lernphase"
wurden A und B gebeten, gemeinsam zu besprechen, welche Grundsätze für
die Unterscheidung zwischen gesunden und kranken Zellen sie entdeckt hatten.
A's Begründungen waren meist einfach und konkret. Dagegen gaben die B-Versuchspersonen
in der Regel nicht zu erkennen, dass sie keine validen Unterschei-dungsmerkmale
festgestellt hätten (was ja auf Grund der Versuchsanordnung korrekt ge-wesen
wäre), sondern führten subtile und komplexe Annahmen über Unterschiede
zwi-schen kranken und gesunden Zellen an. Das Erstaunliche war nun, dass A die
Erklärungen von B nicht einfach als unnötig kompliziert oder gar absurd
ablehnte, sondern von der ge-nauen Brillanz der Erklärung beeindruckt war:
A kam zur Ansicht, dass die banale Ein-fachheit ihrer - im medizinischen Sinn
durchaus korrekten - Erklärungen der Komplexität und Subtilität
von B's Erklärungen, warum bestimmte Zellen als krank oder gesund zu di-agnostizieren
sind, unterlegen war. Bevor sich A und B einem zweiten, identischen Test unterziehen
sollten, wurden beide ersucht, anzugeben, ob A oder B bei diesem weiteren Test
besser abschneiden würde als bei seinem ersten. Alle B's und die meisten
A's vermu-teten, dass es B sein würde. Und dies war auch tatsächlich
der Fall, da die A's einige von B's abstrusen Erklärungen übernommen
hatten und ihre Vermutungen daher absurder und demzufolge unrichtiger waren
als beim ersten Testdurchgang.
Wie dieser Versuch zeigt, ist unser Bemühen nach einer Suche von Regeln
und einer Kon-stitution von Ordnung selbst dort durchaus "erfolgreich",
wo die Konstruktion von Mustern eigentlich erfolglos verlaufen müsste.
Kriz (1997) hat vorgeschlagen, diesen Hang zur zwanghaften Ordnung als Angstabwehrreaktion
zu deuten. Die Ordnung der Lebenswelt schafft uns Vertrautes und Vorhersagemöglichkeiten.
Der Ordnungslosigkeit, sowie sie sich aus unserer Perspektive den B-Versuchspersonen
stellt, versuchen diese zu entkommen, indem sie Regeln konstruieren, die sogar
auf die A-Versuchpersonen überzeugend wirken. Fehlende Vorhersagemöglichkeit,
fehlendes Vertrautes darf offensichtlich nicht die Grunderfahrung unserer Lebenswelt
sein und es ist daher verständlich, wenn wir versuchen, uns drohender Strukturlosigkeit
entgegenzustemmen und Ordnungen selbst dort (er)finden, wo diese aus "objektiver"
Sicht nicht bestehen. Ordnungen verhelfen uns - zumindest soweit und solange
sie sich als verlässlich erweisen - durch die Einführung von Regelmäßigkeiten
und die Reduktion des komplexen, im Prinzip immer einmaligen Erfahrungsprozesses
auf wenige Kategorien zu einer scheinbaren Sicherheit, Kontrollierbarkeit und
Planbarkeit unserer Lebenswelt.
Zu einem Problem werden Ordnungen, wenn sie sich als zu instabil erweisen und
wir uns nicht mehr aus sie verlassen können: Wir gleiten ab in das Chaotische,
das Unvorhersehba-re, sind der Angst vor Unberechenbarkeit und Kontrolllosigkeit
ausgeliefert, wie Menschen im Verlauf kritischer Lebensereignisse, insbesondere
nach massiven Traumata, erfahren. In Folge können sich die Ordnungen des
Lebens, etwa das Gefühl der autobiographischen Kontinuität, das Erleben
von Selbstwirksamkeit, Kohärenzerfahrungen (Antonovsky & Franke, 1997)
oder auch weitere Lebensperspektiven destabilisieren und - was dann erst recht
problematisch ist - nicht neu organisieren.
Doch nicht nur instabile Ordnungen stellen für uns ein Risiko dar. Ordnungen
können uns auch dann gefährlich werden, wenn sie zu rigide werden.
Suchen wir unsere Erfahrungswelt immer mit den gleichen Kategorien nach Regelmäßigkeiten
ab, verschließt sich uns der Blick auf die Einmaligkeit und Vielfalt der
Lebensprozesse. Unser insbesondere im Verlauf der sprachlichen Entwicklung erworbener
Hang zur Reifikation, zur Verdinglichung der prozesshaften Erfahrungswelt unter
Verwendung sprachlicher Kategorien wird dann zur treibenden Kraft unserer Wirklichkeitskonstruktion.
Halten wir aber starr immer an den gleichen Mustern fest, reduzieren sich unsere
Freiheitsgrade im Denken, Fühlen und Handeln drastisch, Kreativität
und Anpassungsfähigkeit an neue Anforderungen werden eingeschränkt,
langfristig wird die Zahl der uns zur Verfügung stehenden Muster, die wir
in der Auseinandersetzung mit den Umweltbedingungen entwickelt haben, reduziert
bleiben.
In diesen phänomenologisch orientierten Überlegungen lassen sich unsere
früheren Aus-führungen zum synergetischen Prinzip der homöodynamischen
Stabilität wiederfinden. Wie dort ausgeführt wurde, müssen wir
durch die Realisierung eines Attraktors Kontinuität und Stabilität
sichern und dürfen uns nicht in einer ausschließlich sprunghaften
Anpas-sungsdynamik, einer instabilen Ordnung verlieren. In der Metaphorik der
Potenzialland-schaft gibt es bei anhaltender Instabilität der Ordnung in
der Landschaft keine ausgeprägten Täler, in die die das Erleben und
Verhalten repräsentierende Kugel rollen und sich damit stabilisieren kann.
Gleichzeitig müssen wir uns aber auch, wenn sich Kontrollparameter und
Randbedingungen ändern und kritische Werte erreichen, auf Phasen der Instabilität
einlassen und darauf vertrauen, dass sich neue, besser an die gegebenen Bedingungen
angepasste Muster organisieren. Ein Festhalten an der alten Ordnung, der immer
wieder wiederholte Versuch, durch Homöostase den alten Funktionswert aufrechtzuerhalten,
verhindert hier notwendige Veränderung und Wachstum.
Die Potenziallandschaft weist in diesem Fall nur wenige, dann aber meist sehr tiefe Täler auf. Die Kugel des Erlebens und Verhaltens kann in dieser Landschaft an einer beliebigen Stelle starten, sie wird mit hoher Wahrscheinlichkeit in einem solchen tiefen Tal landen. Entweder wird sie - aus Gewohnheit - von selbst dorthin laufen oder es genügen bereits geringe Anstöße (Fluktuationen) von außen, wenn sie denn einmal im flachen Tal eines schwach ausgeprägten Attraktors zu Ruhe gekommen sein sollte, um sie in Richtung eines tiefen Tals in Bewegung zu setzen. Dort angelangt und hineingerollt gibt es kaum mehr ein Entkommen - wie wir etwa bei Depressionen, bei denen wir sprichwörtlich in ein tiefes Loch fallen, erleben können.
Da der bestimmende Attraktoren das zur Verfügung stehende Verhaltesspektrum dominiert, erweisen sich diese Muster als ausgesprochen penetrant: ein "Aussteigen" ist nur schwer möglich, selbst wenn die einschränkende und damit schädigende Wirkung erkannt wird.
Unter Rückgriff auf diese Überlegungen kann man aus Sicht der Synergetik-Therapie
als ein Ziel des therapeutischen Vorgehens die Ausformung alternativer Potenzialtäler
(Attraktoren) definieren. Die Form der Landschaft wird damit komplexer und differen-zierter,
der Einzugsbereich, das Bassin, der ursprünglichen Attraktoren wird kleiner,
womit sich auch die Wahrscheinlichkeit verringert, diese zu erreichen. Werden
aufgrund der ge-gebenen Alternativen einzelne Attraktoren weniger häufig
angesteuert, können sie ihre Sogwirkung verlieren, das tiefe Tal wird angehoben,
in günstigen Fällen kann sich ein "Störungsattraktor"
(Grawe 1998) zu einem Repellor wandeln, an dem sich die Kugel nicht halten kann,
da alle Kräfte davon weggerichtet sind: das Tal ist zum höchsten Punkt
einer abgerundeten Bergkette geworden, die Kugel rollt aus diesem Zustand hoher
Instabilität immer in ein anderes Tal. Damit ein flexibles und situationsangemessenes
"Switchen" zwi-schen den Tälern möglich ist, sollten in
dieser vielgestaltigen Landschaft die Sättel bzw. Hügelketten zwischen
den Tälern nicht zu hoch sein. Freilich nähern wir uns mit diesen
Ausführungen Wertungen, die so in der Theorie der Selbstorganisation nicht
enthalten sind. Selbstorganisation ist ein Prozess, der in sich selbst weder
gut noch schlecht ist, und das theoretische Verständnis dieses Prozesses
ist nicht mit einem expliziten Wertesystem verbunden.
Und trotzdem: Wenn wir als Therapeuten die Ordnungen unserer Klienten als stabil, instabil oder überstabil kennzeichnen und damit Verletzungen des Prinzips der ho-möodynamischen Stabilität konstatieren, schwingen hier implizite Wertungen mit, denn wir wünschen uns für unsere Klienten vielgestaltige Potenziallandschaften, in denen sie sich flexibel und situationsangepasst bewegen können. Natürlich sind diese Wertungen durch unsere eigenen Normen und Menschenbildvorstellungen vorgegeben, nicht aber durch die Theorie der Selbstorganisation. Daher wird es immer im Einzelfall zu entscheiden sein, ob unsere Klienten unsere Sichtweise teilen oder ob für sie Stabilität, Instabilität und Flexibilität nicht mit anderen Wertungen verbunden sind. In diesem Zusammenhang ist ein weiterer Aspekt von Bedeutung: Bislang wurden die Prozesse der spontanen Struk-turbildung weitgehend ohne inhaltliche Festlegung beschrieben. Aber die Klienten bringen natürlich diese Inhalte in die Therapie mit. Es sind ihre Erlebnisse und die daraus abgelei-teten Erfahrungen, die Anlass und Gegenstand der Therapie sind, ohne die Therapie überhaupt nicht machbar wäre. In der Regel enthalten diese Erfahrungen auch normative Wertungen, da das Aufsuchen einer Therapie anzeigt, dass etwas, was in Ordnung sein sollte, eben so nicht in Ordnung ist, sondern als "gestört" oder "krank" und damit therapiebedürf-tig gewertet wird. Für Coaching-Prozesse, in denen es um Persönlichkeitsentwicklung oder das Erreichen bestimmter Ziele geht, mag dies weniger gelten, aber auch hier beschreiben die Ziele inhaltliche Vorgaben, die der Klient erfüllt sehen möchte.
Gleichwohl müssen wir uns als Therapeuten immer wieder deutlich machen, dass die Vorstellung von Therapie oder Coaching als Förderung selbstorganisierter Prozesse keine normativen individuums- oder systemübergreifenden Ziele vorgibt. Wie unsere Klienten leben und was sie erreichen wollen, bleibt ihnen selbst überlassen, und kann in jedem Fall Gegenstand der Synergetik-Therapie werden, wobei Grenzen allenfalls durch die eigenen Normen des Therapeuten vorgegeben werden. Diese eigenen normativen Einschränkungen gilt es aber beständig im Rahmen der eigenen Selbsterfahrung zu reflektieren und zu überwinden. Nur dadurch ist es möglich, den Prozess des Klienten mit Offenheit und Expertise zu begleiten, weitgehend unabhängig davon, welche Inhalte, für die der Klient selbst der Experte ist und für die er letztlich die Verantwortung trägt, gerade Gegenstand der Therapie sind. Freilich ergibt sich damit eine Erweiterung der oben angeführten allgemeinen Zieldefinition: Es sollte nicht nur die Potenziallandschaft komplexer und vielgestaltiger werden, sondern es sind bestimmte Potenzialtäler, die Problemzustände repräsentieren, zu verflachen und andere Täler, die die gewünschten Zustände darstellen, zu vertiefen. Gleichzeitig sollten Bedingungen geschaffen werden, die Übergänge von Störungsattraktoren zu Ordnungen, die den Zielvorgaben des Klienten entsprechen, fließend und ohne Blockaden ermöglichen. Um diese Ziele zu erreichen, wird in der prozessorientierten Synergetik-Therapie ein adaptives Vorgehen angestrebt, bei dem sich der Therapeut weitgehend auf die Vorgaben des Klienten abstimmt.
Professionalität besteht aus Sicht der Synergetik-Therapie in der Schaffung
von Möglichkeiten für systeminterne Prozesse des Klienten, steuerbar
oder in ihrem Ausgang vorhersehbar sind - sofern das Vorgehen mit der Synergetik-Theorie
begründet wird - diese Prozesse nicht. Diesem Verzicht auf die direkte
therapeutische Beeinflussbarkeit wird das Vertrauen in die Selbstorganisationsprozesse
und -fähigkeiten der Klienten, in ihre hierfür aktivierbaren Ressourcen
und ihre Wachstumspotenziale entgegengesetzt.Von der Synergetik Theorie zur
Praxis der Synergetik-Therapie
Versuchen wir nach diesen allgemein gehaltenen Ausführungen zur Musterbildung
und den sich daraus ergebenden therapeutischen Zielsetzungen den konkreten Ablauf
einer Therapiesitzung anhand der bisher erläuterten theoretischen Prinzipien
zu reflektieren. In der Synergetik-Therapie werden die Muster eines Klienten
in den "Sessions" durch soge-nannte Innenweltreisen sichtbar gemacht:
Er liegt auf einer bequemen Matte, kann sich durch eine Augenbinde von der Außenwelt
abschirmen und wird von dem Synergetik The-rapeuten in einen Tiefenentspannungszustand
versetzt. Die äußere Umwelt wird reduziert auf auditive Wahrnehmungen
(Stimme des Therapeuten, Geräusche oder Musik, die der Therapeut zur Unterstützung
des Prozesses einspielt), taktile Eindrücke (Auflage auf der Unterlage)
und die Wahrnehmung von Gerüchen. Insbesondere die weitgehende Aus-schaltung
der auf die Außenwelt bezogenen visuellen Wahrnehmung erleichtert dem
Klienten in einem freilaufenden Prozess alle Energieerscheinungen seiner neuronalen
Ge-hirntätigkeit mit seinem Bewusstsein wahrnehmen. Er begibt sich in seine
Innenwelt, in der sich allerdings die auch in der Außenwelt handlungsleitenden
Muster zeigen, wie sich während der Sessions erleben lässt. Hier löst
sich häufig der uns sonst geläufige Unter-schiede zwischen Innen und
Außen auf, die in der Innenwelt auftauchenden Figuren und Erlebnisse erscheinen
uns real, der Eindruck, etwas in seiner Phantasie zu konstruieren, geht verloren.
Damit bestätigt sich, dass das Gehirn diesen Unterschied zwischen Innen
und Außen selbst herstellt und das transphänomenal existierende Außen
weitaus weniger bedeutsam ist, als es uns im Alltagsleben erscheint.
In der Sprache der Synergetik-Theorie sind die in der Innenwelt auftauchenden
Muster, mit denen der Klient die gestellten Anforderungen seines Lebens zu bewältigen
versucht, als immer wiederkehrende "Lebensthemen" auf der makroskopischen
Ebene angesiedelt, sie emergieren aus den auf den auf der Mikroebene befindlichen
Teilen. Als solche werden in der Synergetik-Therapie üblicherweise alle
in der Innenwelt zugänglichen visuellen, audi-tiven, haptischen (kinästhetisch-propriozeptiven
oder taktilen), olfaktorischen und gustato-rischen Wahrnehmungen, die mit ihnen
einhergehenden Kognitionen und Emotionen sowie die sich einstellenden Handlungsintentionen
betrachtet. Im Vordergrund stehen dabei ins-besondere zu Beginn des therapeutischen
Prozesses die inneren Bilder und Filme, in denen sich Erinnerungen an mehr oder
weniger reale Erlebnisse oder auch die Symbolsprache des Unterbewusstseins ausdrücken
kann. Subjektive Interpretationen, Bedeutungszuweisungen und Bewertungen werden
in den auf die Wahrnehmungen bezogenen Gedanken sichtbar, die der Klient in
seinen inneren Mono- und Dialogen und tief verankerten Glaubenssätzen über
die Beschaffenheit der Welt und der eigenen Person offen legen kann. Durch die
während der Innenweltreise auftauchenden erlebten oder auch unterdrückten
Emotionen bekommen die einzelnen Erfahrungen eine besondere energetische Qualität.
Hier zeigt sich, ob der Klient im Fluss ist, seine Innenwelterfahrungen flexibel
durchleben kann oder auf Blockaden stößt, die sein Erleben einschränken
und von ihm als Störungen erlebt werden. Besondere Bedeutung hat in diesem
Zusammenhang das Empfinden im Körper, dass mit jeder Emotion verbunden
ist. Psychische Erfahrungen und Erinnerungen werden demnach nicht nur im Gehirn,
sondern auch in den Zellen des Bindegewebes, das jeden Muskel, jedes Organ und
jeden Knochen umgibt, gespeichert. In diesem Sinne sind während des therapeutischen
Prozesses auftauchende Körpersensationen, Veränderungen in der Atmung,
innere Druck- und Schmerzgefühle aber auch meist als Befreiung erlebte
Empfindungen von innerer Weite, Offenheit, Leichtigkeit oder Kribbeln zu beachten
und einzubeziehen. Handlungsintentionen können wiederum verbal geäußert
werden oder sich in mehr oder weniger bewussten körperlichen Bewegungsaktionen
(etwa Veränderungen der Körperlage, Bilden einer Faust, Schlagen mit
der Hand oder den Füßen) zeigen.
Aus Sicht der Synergetik-Therapie organisieren sich diese Einzelprozesse des
Wahrneh-mens, Empfindens, Fühlens, Denkens und Handelns zu einem kohärenten
Ordnungsmuster. Das Ordnungsmuster emergiert aus den einzelnen Teilen, koordiniert
diese zu einem kohärenten Ganzen und wirkt im Sinne der synergetischen
Kreiskausalität "versklavend" auf die Teile zurück: die
Vielfalt möglicher Wahrnehmungen, Gedanken und Gefühle wird eingegrenzt
auf die zu dem Muster passenden. Einzelprozesse und Ordnungsmuster kön-nen
im Sinne von Horowitz (1987) als "State of Mind", als zeitlich begrenzter,
komplexer Verarbeitungs- und Erlebniszustand betrachtet werden kann. In der
komplexen Innenwelt werden dabei die mit einem State korrespondierenden Selbstkonzepte
und Objektkonzepte sowie die zwischen dem Selbst und den Objekten charakteristischen
Beziehungsschemata sichtbar: Der Klient erlebt sich während des "Surfens"
durch seine Innenwelt als Teilneh-mer oder Beobachter dieser Welt, in der er
Gegenständen, Symbolfiguren oder Lebewesen begegnet und sich zu diesen
in Beziehung setzt. Sowohl für den Klienten als auch für den Therapeuten
lassen sich während des "Surfens" durch die Innenwelt solche
States of Mind etwa anhand der affektiven Befindlichkeit, der thematisierten
Inhalte, der Art und Weise, wie der Klient mit seinen Innenweltobjekten oder
dem Therapeuten kommuniziert, und para- und nonverbaler Indikatoren (Tonfall,
Gestik, Mimik) erschließen. Auch wenn sich die Kontexte des Erlebens verändern,
der Klient also etwa während seiner Innenweltreise in verschiedenen Situationen
unterschiedlichen Personen begegnet, zeigt sich häufig der gleiche State
of Mind: Synergetik-Therapeuten sprechen hier von der Selbstähnlichkeit,
nach der schon wenige ähnliche Informationen ausreichen, um ein Ordnungsmuster
zutage treten und die Konkurrenz mit anderen möglichen States of Mind gewinnen
zu lassen. Selbstähnlichkeit zeigt sich aus Sicht der Synergetik-Therapie
allerdings nicht nur im Auftauchen eines State of Mind in unterschiedlichen
Kontexten, sondern bereits im Zusammenwirken der verschiedenen Ausdrucksebenen
des Menschen:
Taucht in der Session ein körperliches Symptom auf, lässt sich dessen
selbstähnliche Entsprechung auch auf des psychischen Ebene in Form von
Emotionen und Empfindungen sowie auf der geistigen Ebene in Form von spezifischen
Gedankenmustern wie etwa Mustersätzen oder Moralvorstellungen ausfindig
machen (Stachowiak 2006). State of Minds stellen in diesem Sinne prägnante,
für einen Klienten charakteristische Kognitions-Emotions-Muster dar, die
mit bestimmten Körperempfindungen und Handlungsintentionen sowie mit Selbst-
und Bezie-hungsschemata verknüpft sind. Sie tauchen als Ordnungsmuster
einerseits im Vollzug der Innenweltreise auf, wenn sie durch entsprechende Informationsverarbeitungsprozesse
akti-viert werden. Andererseits steht aber auch die Informationsverarbeitung
unter dem Einfluss des jeweiligen States: Ein Klient kommt in der Regel zur
Therapie, weil er sich immer wieder in seinem Leben in „Problem“-States
wiederfindet. Diese „Problem“-States werden früher oder später
auch bei einer Innenweltreise wirksam werden und sich in den Bildern des Klienten
ausdrücken, der State wird so die Generierung bestimmter Informationen
nahe legen.
Darüber hinaus kann es die Funktion eines States sein, die Verarbeitung
bestimmter Informationen und die mit ihnen zusammenhängen Kognitionen bzw.
Emotionen zu kontrollieren oder zu blockieren. In diesem Fall übernehmen
States die Funktion von Abwehrmechanismen. Der Übergang von einem „Problem“-State
in einen „Abwehr“-State erfolgt etwa dann, wenn das mit einem Problemmuster
verbunden Erleben während der Innenweltreise zu belastend wird. Ebenso
kann die im therapeutischen Prozess auftretende Phase der Destabilisierung angstauslösend
wirken: die damit verbundenen Unsicherheiten motivieren zum Rückzug auf
das Bekannte, das bereits erweiterte Bassin der Attraktor-landschaft wird wieder
verengt, bevor es zu wirklich kritischen Instabilitäten und Muster-kippung
kommen kann. In beiden Fällen gilt es für den Therapeuten, einen adäquaten
Um-gang mit der Vermeidung des Klienten zu finden, etwa abzuwarten, bis sich
der Problem-State, der ja einen Attraktor mit großer Sogwirkung darstellt,
wieder von selbst in der In-nenwelt zeigt, oder durch aktiveres Einschreiten
den Klienten mit der vermiedenen Situation zu konfrontieren.
Veranschaulichen wir diese Überlegungen an einem Beispiel aus einer Therapiesitzung:
Ein Klient, der wegen Schmerzen im Magen an einer Session teilnimmt, begegnet
nach der einführenden Entspannungsphase während seiner Innenweltreise
zunächst in einer Fels-landschaft einem fruchterregenden Drachen.
Der Klient spürt deutliche Ängste vor der Macht und Potenz des Drachens, seine Magenschmerzen verstärken sich, was von ihm als Hinweis auf einen Zusammenhang zwischen Drachen und Magenproblemen gewertet wird. Im Symbolbild des Drachens, das als solches in der Regel nicht vom Therapeuten interpre-tiert wird, zeigt sich somit ein Muster, das den Hintergrund für die Magenschmerzen bildet. Um von der Symbol- auf die konkretere Erlebnisebene zu wechseln, bittet der Therapeut den Drachen eine menschliche Gestalt anzunehmen oder dem Klienten Ereignisse aus seinem Leben zu zeigen, die mit des Magenschmerzen zusammenhängen. Diesem Versuch begegnet der Klient mit einem Übergang in einen neuen State: Der Drache verblasst, der Klient findet sich in einer saftig grünen Waldlichtung mit Blumen und Schmetterlingen wieder. Von den Magenschmerzen ist nichts mehr zu spüren, eine scheinbare Entspannung und Entemotionalisierung breitet sich aus, die aber nicht lange anhält: auf dem Weg durch den Wald wandelt sich die Umgebung langsam aber stetig wieder in die Felslandschaft, in der der Drache erneut auftaucht. Dieser wird nun vom Therapeuten als ein Bote positiv konnotiert, dem man durch Rückzug zwar kurzzeitig entkommen kann, der aber offen-sichtlich eine wichtige Nachricht über die Ursachen der Magenschmerzen hat. Auf die Frage des Therapeuten, ob der Klient weiter in der Vermeidung bleiben will oder bereit ist, sich der Botschaft zu öffnen, lässt sich der Klient von dem Drachen in Situationen führen, die im Zusammenhang mit den Magenschmerzen stehen. Nach einigen blitzlichtartig wahrgenommenen Ereignissen entwickelt sich eine Situation, in der der Klient als sechs-jähriges Kind von seinem Vater wegen einer Lappalie heftig kritisiert wird. Die Vorwürfe des Vaters lösen bei dem Klienten Ohnmachts- und Hilflosigkeitsgefühle aus, Gedanken wie "was soll ich nur tun?", "Scheiße, ich mache auch immer alles falsch" gehen ihm durch den Kopf, in der oberen Magengegend spürt er einen lastenden Druck, gleichzeitig fühlt er sich wie gelähmt und will sich klein machen. Den Vater nimmt er als übermächtig fordernd wahr, dem er selbst ausgeliefert ist. Der Klient bezeichnet den Erlebniszustand, in dem er sich befindet, als "Machtlosigkeit", Selbst- und Objektkonzept sind durch eine typische Opfer-Täter Konstellation charakterisiert.
Das Ordnungsmuster "Machtlosigkeit" dominiert auch die weitere Interaktion
mit dem Vater, der bedrohlich auf den Klienten zukommt und ihn immer lauter
anschreit. Während der Vater aus Sicht des Klienten immer größer
wird, sackt er selbst immer mehr in sich zusammen und fühlt sich wie ein
zusammengedrücktes "Häufchen Elend". Selbstähnlich
begegnet diese Muster der Machtlosigkeit dem Klienten im späteren Verlauf
der Session auch in anderen Situationen, in denen er sich mit kritischen Anmerkungen
durch Autoritätspersonen (Lehrer, Chef) konfrontiert sieht: "Machtlosigkeit"
kann als Attraktor interpretiert werden, der eine starke Anziehungskraft auf
das Prozessieren des psychischen Systems bei entsprechenden Randbedingungen
ausübt. Da der Vater in der Innenwelt zu verstehen gibt, dass er etwas
mit den Ma-genschmerzen des Klienten zu tun hat, wird auch hier von einer Selbstähnlichkeit
der Aus-drucksebenen ausgegangen: Den selbstähnlichen Hintergrund für
das körperliche Symptom bildet durch das Muster „Machtlosigkeit“
charakterisierte State of Mind. Wird dieser Hin-tergrund verändert, sollten
sich auch die Magenschmerzen auflösen.
Wie lassen sich nun aus Sicht der Synergetik-Therapie solche Ordnungsmuster
verändern, falls der Klient diese Veränderung wünscht? Anstatt
hier nun einzelne Interventionstechni-ken anzuführen wollen wir das Vorgehen
in der Synergetik-Therapie vor dem Hintergrund der von Haken und Schiepek (2006)
formulierten generischen Prinzipien für die Förderung und Unterstützung
selbstorganisierter Entwicklungsprozesse diskutieren. Die Autoren nen-nen folgende
Kriterien für die Gestaltung selbstorganisierter Entwicklungen, die es
im Rahmen der Synergetik-Therapie permanent zu beachten gilt, die aber im Verlauf
der Ses-sions unterschiedliche Bedeutung erhalten können:
(1) Schaffung von Stabilitätsbedingungen. Stabile Rahmenbedingungen sind
insbesondere dann notwendig, wenn Ordnungsübergänge mit kritischer
Instabilität und mit der De-stabilisierung von Attraktoren verbunden sind.
Die Synergetik-Therapie erzeugt im Sinne dieses Prinzips eine Destabilisierung
im Kontext von Stabilität, indem sie zu-nächst Maßnahmen zur
Schaffung struktureller Sicherheit ergreift: Dem Klienten wird im Vorgespräch
das therapeutische Setting (weiche Unterlage, auf der der Klient liegt, Augenbinde
zur besseren Orientierung in die Innenwelt) und das Vorgehen transparent gemacht
und der Beginn der einzelnen Sessions folgt weitgehend einem standardisierten
und damit für den Klienten vorhersehbaren Ablauf (es wird ein Entspannungstext
vorgelesen, an dessen Ende der Klient über eine Treppe in einen Raum geführt
wird, der den Ausgangs- und Endpunkt seiner Innenweltreise darstellt; über
eine oder mehrere Türen in diesem Raum betritt der Klient den Bereich seiner
Innenwelt, den es the-matisch zu bearbeiten gilt). Darüber hinaus wird
dem Klienten deutlich gemacht, dass er zu jeder Zeit während seiner Innenweltreise
entscheiden kann, welche problematischen Ordnungsmuster er in welcher Tiefe
bearbeiten möchte. Auch den Zeitpunkt des Endes seiner Innenweltreise kann
er während der Session selbst bestimmen. Der Therapeut bleibt als wesentliche
Voraussetzung für die Schaffung einer vertrauensvollen Beziehung während
der gesamten Sitzung präsent und begleitet den Klienten kompetent durch
die einzelnen Phasen der Session. Dabei zeigt er indirekt im Verlauf der Session
dem Klienten, wie dieser Sicherheit aus sich selbst heraus gewinnen kann, indem
er beim Klienten die Erfahrung von Eigenverantwortung, Selbstwirksamkeit, Kontrollierbarkeit
und Handhabbarkeit sowie den Zugang zu den eigenen Ressourcen unterstützt.
Insgesamt wird so ein „sicherer Ort“ geschaffen, von dem aus der
Klient sich auf seine Innenweltreisen begeben kann.
(2) Identifikation von Mustern des relevanten Systems.
Innenweltreisen werden zunächst als ein freilaufender Prozess konzipiert,
in dem der Klient von selbst und ohne allzu viele Vorgaben des Begleiters seine
Innenwelt entfaltet. Indem er dem Synergetik-Therapeuten seine Wahrnehmungen
mitteilt, sich selbst, andere Personen oder die Um-gebung beschreibt und über
das Geschehen berichtet, kann der Therapeut sich in die Welt den Klienten hineinversetzen
und den therapeutischen Prozess verfolgen. Schon dadurch kann er sich entwickelnde
Kognitions-Emotions-Verhaltens-Muster beobach-ten und gegebenenfalls rückmelden.
Erst wenn vom Klienten keine Impulse kommen, macht der Therapeut Vorschläge,
um den Prozess in Gang zu halten und zu vertiefen. Dazu gehören insbesondere
zu Beginn des Prozesse etwa das Einspielen von Geräu-schen, abwechselnde
Fragen nach dem Erleben in den unterschiedlichen Sinnesmoda-litäten (was
siehst, hörst du, spürst du, welches Gefühl taucht auf, was sagst
du zu dir?), die Umsetzung von Körperwahrnehmungen in Symbolbilder oder
„reale“ Ges-talten, die Herstellung einer Verbindung zwischen einer
Emotion und der konkreten Situation, in der das Gefühl entstanden ist,
das Auftauchen lassen von wichtigen Be-zugspersonen in der kritischen Situation
oder auch Zeitreisen in die Vergangenheit oder Zukunft. In der Synergetik-Therapie
werden die Interventionen als „Scheibchen ziehen“ bezeichnet: Der
Therapeut gibt einen kleinen Anstoß von außen und setzt damit gewissermaßen
einen Impuls. Da nicht vorhersehbar ist, auf welchen Impuls sich der Klient
einlässt (er prozessiert ja aus Sicht der Synergetik-Theorie als operational
geschlossenes System) werden die Interventionsvorschläge in Form von Y-Fragen
an-gewendet: Idealerweise bietet der Therapeut dem Klienten mindestens zwei
Anregungen simultan an, die Auswahl, welchem der Vorschläge gefolgt wird,
bleibt beim Klienten. Der Klient wird durch das „Scheibchen ziehen“
somit zwar „angeschoben“, das heißt zu einem Fortgang des
Prozesses motiviert, nicht aber in eine bestimme Richtung „gezogen“,
da er entscheidet, welchem Arm des Y’s er folgt. Der therapeutische Prozess
erreicht einen günstigen Punkt, wenn sich in der Innenwelt eine relativ
stabile Szene entfaltet hat, in der auf den unterschiedlichen Darstellungsebenen
(innere Bilder, Gedanken, Emotionen, Körperwahrnehmungen, Handlungsintentionen,
interpersonelle Relationen) die einzelnen Teile des Musters, das in Verbindung
mit dem therapeutischen Anliegen des Klienten steht, sichtbar gemacht wird.
Besonders intensiv gestaltet sich der weitere Prozess, wenn in der Szene das
Prägungserlebnis des Musters, das in der Regel mit intensiven Emotionen
(bzw. der Abspaltung dieser Emotionen) einhergeht, deutlich wird.
(3) Kontrollparameter identifizieren und Energetisierungen ermöglichen.
Soll über das Prinzip der Selbstorganisation eine Veränderung des
Musters, das den Hintergrund für das Problem des Klienten bildet, angestrebt
werden, setzt dies eine energetische Akti-vierung des Systems voraus. In physikalischen
Systemen wird dazu - wie wir am Bei-spiel der Bérnard-Konvektion gesehen
haben - dem System Energie von außen zuge-führt, bis der Kontrollparameter
(etwa die Temperaturdifferenz) eine kritischen Wert überschreitet, was
über eine Phase der Destabilisierung zur Bildung neuer Muster führt.
Aus Sicht der Synergetik bilden Kontrollparameter eine Größe, die
die inneren Wech-selwirkungen der Prozesse und Elemente indirekt moduliert,
das System aktiviert oder systeminterne Hemmungsprozesse aufhebt bzw. verstärkt.
Im Unterschied zu physika-lischen Systemen, bei denen eine effektive Abgrenzung
des Systems von den Einflüssen der außerhalb des Systems liegenden
Kontrollparameter vorgenommen werden kann, liegen bei psychischen Systemen die
Kontrollparameter in vielen Fällen im System selbst. Regulieren in physikalischen
Experimenten die Experimentatoren durch E-nergiezufuhr die Ausprägung des
Kontrollparameters, so hat in der therapeutischen Sit-zung der Klient - und
nicht der Therapeut - die Finger am Regler seiner Kontrollpara-meter: Das Klientensystem
selbst entscheidet somit, was es umfassend energetisiert, an- oder abregt. Im
therapeutischen Setting dürften Gefühlszustände und insbesondere
die mit ihnen zusammenhängenden Motivationslagen relevante Kontrollparameter
dar-stellen. Die Erfüllung zentraler Bedürfnisse ist schon aus evolutionsbiologischer
Per-spektive ein das physische und psychische Überleben des Systems sicherndes
Anlie-gen, in das wir Energie investieren und das uns antreibt, sich in einer
Aktion (und meist auch einer Interaktion) zu zeigen. Hat diese Aktion Erfolg,
so klingt die Energie wieder ab und in der neuronalen Matrix wird eine Gedächtnisspur
geschaffen, die die Verbin-dung zwischen Bedürfnis, Aktion/Interaktion
und Bedürfnisbefriedigung speichert. Werden dagegen auch nach einer anfänglichen
Intensivierung der Energie die Bedürfnisse durch Aktionen und Interaktionen
nicht adäquat befriedigt, wird die Ausdrucksenergie blockiert oder lässt
mit zunehmender Erschöpfung nach und es werden resignative, vermeidende,
durch Rückzug oder Ängstlichkeit charakterisierte Kognitions-Emotions-Verhaltens-Muster
in der neuronalen Matrix verankert. Wenn aber die Ausprägung von Kontrollparametern
vom Klienten selbst gesteuert wird, wie ist dann die Aufgabe des begleitenden
Therapeuten zu verstehen? In der Regel wird er nicht durch eine direkte Zufuhr
von Energie selbstorganisierte Veränderungen anregen können. Vielmehr
muss er versuchen, die systeminterne Veränderung von Aktivierungsbedingungen
zu erleichtern, damit der Klient den Zugang zu seinen eigenen Kontrollparametern
öffnen kann.
In der Synergetik-Therapie geschieht dies unter anderem durch die Intensivierung
und Zulassen von Emotionen, das Erspüren von (bei den Klienten meist unerfüllten
oder abgespaltenen) Bedürfnissen, Wünschen und Sehnsüchten, die
Aktivierung von Ressourcen, die Generierung von Bedeutung („was heißt
das für dich?“), die emotionale Relevanzzuschreibung bezüglich
der eigenen Ziele und Visionen, das Erlauben, Fördern, manchmal aber auch
gezielte Blockieren von motorischen Bewegungsimpulsen und Körperprozessen
(etwa Veränderung der Atmung, Zittern, Schlagen, Treten), das laute wiederholen
lassen von Mustersätzen oder den Einsatz von Musik und Geräuschen.
All dies geschieht, während der Klient sich intensiv in seiner Innenwelt
mit seinen aufgetauchten Energiebildern konfrontiert, indem er in Interaktion
mit den präsenten Bezugspersonen tritt. Der Therapeut ermuntert den Klienten
durch eine direkte „Hier-und-Jetzt“-Ansprache Kontakt aufzunehmen
und notwendige Klärungen anzustreben. Reaktionen und Antworten der angesprochenen
Personen werden in ihrer Wirkung auf den Klienten beobachtet und in die weitere
Konfrontation eingebracht. Durch diese permanente Rückkopplung wird einerseits
der Klient in der Konfrontation gehalten und andererseits der Energiefluss verstärkt.
Dabei achtet der Therapeut darauf, vor allem die Impulse des Klienten - und
nicht seine eigenen - aufzugreifen und - wenn möglich - Rückzugs-
und Vermeidungstendenzen des Klienten oder eine Reflektion des Geschehens ohne
Ich-Beteiligung zu unterbinden, da dieses in der Regel zu einem Absinken des
Energiepegels führt. Ebenso bemüht sich der Therapeut, sein eigenes
Verhalten dem jeweils aktuellen Energieniveau des Klienten anzupassen, indem
er etwa auch lauter oder schneller spricht oder mit dem Klienten zusammen mit
einem Schlagstock die Energiebilder „bearbeitet“. Gerade diese zeitliche
Passung und Synchronisation der Verhaltensweisen des Therapeuten und Klienten
zeigt die Grenzen der Energetisierung psychischer Systeme durch äußere
Einflüsse: Der Therapeut kann durch sein Verhalten das energetische Niveau
des Klienten spiegeln und über die etab-lierte Resonanzbeziehung sogar
versuchen, „von außen“ Energie in das psychische System des
Klienten einzubringen (indem er noch etwas lauter oder schneller spricht bzw.
etwas härter zuschlägt als der Klient). Forciert er sein Bemühen
dabei aber in einer Weise, die nicht mehr dem energetischen Niveau oder emotionalen
Verarbeitungstiefe des Klienten entspricht, besteht die Gefahr, dass dieser
aus dem Prozess aussteigt und über die Etablierung anderer interner Kontrollparameter
die erreichte Aktivierung des Systems wieder hemmt.
(4) Destabilisierung und Fluktuationsverstärkungen anregen.
Die Synergetik-Therapie möchte für den Klienten durch die Anregung von Selbstorganisationsprozessen neue Erfahrungsmöglichkeiten eröffnen. Dazu ist es aus Sicht der bisherigen theoretischen Überlegungen notwendig, vorhandene Kognitions-Emotions-Verhaltens-Muster zu de-stabilisieren: erst vor dem Hintergrund dieser Instabilität kann sich bei weiterer Ener-giezufuhr in einem Phasenübergang ein neues Muster herauskristallisieren. Schon vor der Therapiesitzung bereiten sich Destabilisierungen bestehender Muster häufig inner-lich vor, wenn der Klient das Gefühl entwickelt, dass seine bisher gelebten Formen der Wirklichkeitskonstruktion, der emotionalen Verarbeitung oder seines Verhaltens nicht mehr adäquat sind. Notwendige Entwicklungsschritte, die anstehende Auseinanderset-zung mit einschränkenden Lebensthemen oder die Bewältigung neuer Herausforderun-gen werden einerseits zum Anlass für die Teilnahme an einer Synergetik-Therapie ge-nommen und implizieren andererseits eine vom Klienten mehr oder weniger bewusst und intentional wahrgenommene Notwendigkeit, alte Muster loszulassen. Innerhalb ei-ner Synergetik-Therapie-Session wird der Klient bei der Destabilisierung unterstützt, indem etwa der Therapeut den Klienten auch dann in Konfrontation mit seinen Ener-giebildern hält, wenn diese stark emotional belastend sind. Gleichzeitig ermuntert er den Klienten, in der Innenwelt den sich entwickelnden Handlungsimpulsen nachzugeben und diese konsequent auszuleben. Die plastische Wiedererinnerung an kritische oder traumatische Situationen sowie die Durchführung von Aktionen in diesen Situationen bietet die Möglichkeit, neue Informationen mit den Energiebildern zu verknüpfen, die dann als eine strukturell veränderte Gedächtnisspur abgespeichert werden können. Ohne anhaltende Konfrontation wird dagegen eine Stabilisierung des problematischen Musters bzw. der Vermeidung erreicht, was zwar in der aktuellen Therapiesituation kurzfristig Erleichterung von den als unangenehm erlebten Emotionen bringen mag, langfristig aber dazu führt, dass das nicht veränderte Muster weiter im Hintergrund seine Wirkungen entfalten kann. Gleichzeitig macht der Klient in seiner Innenwelt Erfahrungen, die in der Regel im Außen in dieser Form nicht erlebt werden: Unbelebte Gegenstände können sich äußern, mit verstorbenen oder abwesenden Personen kann Kontakt aufgenommen werden, Bilder aus „früheren Leben“ können auftauchen.
Eine Destabilisierung kann auch gefördert werden, indem der Therapeut
dem Klienten Vorschläge für die Gestaltung der Innenwelt unterbreitet,
die mit der rationalen Logik nicht ohne weiteres nachvollziehbar sind. So können
etwa unterschiedlich auftauchende Energiebilder miteinander verbunden werden,
Personen, die in verschiedenen erinnerten Erlebnissen präsent waren, aber
keinen gemeinsamen Bezug hatten, können zusammentreffen, in kritische Situationen
können innere Helfer (etwa innere Instanzen wie Schutzengel, weise Lehrer
und Heiler oder auch eigene Persönlichkeitsanteile) eingebaut werden, durch
Dissoziation und Assoziation kann die Situation aus unterschiedlichen Perspektiven
betrachtet und erlebt werden, der Therapeut kann dem Klienten Mut zum Experimentieren
und Provozieren in seiner Innenwelt machen. Durch diese unterschiedlichen Vorgehensweisen,
die aus Sicht der Synergetik als Fluktuationen verstanden werden können,
soll der Klient ermuntert werden, aus der Gewohnheit des in seinem „Störungsattraktor“
verankerten Musters auszubrechen, sich auf ein Phase chaotischen Prozessierens
einzulassen. Gelingt ihm dieses, so verliert der Störungsattraktor an Sogwirkung,
mit der zunehmenden Destabilisierung wird sein Bassin flacher und das kritische
Langsamerwerdens des Systemverhaltens bei weiteren Fluktuationen führt
dazu, dass der Klient sich nicht wieder direkt vom Störungsattrak-tor „einfangen“
lässt. Im Sinne abweichungsverstärkender Rückkopplungen kann
er zunehmend ausgeprägter und länger in anderen, emotional relevanten
Erfahrungen as-soziierten Zuständen verbleiben. Interessanterweise zeigt
sich kritisches Langsamer-werden bei Klienten, die einen starken Vermeidungsstil
entwickelt haben, darin, dass die mit dem vermiedenen Muster zusammenhängenden
Erfahrungen wieder erlebt werden: Psychische oder körperliche Schmerzen
in einer Situation, die Anlass zum Aufbau der Vermeidungsstrategie waren und
damit abgespalten wurden, werden wieder zugänglich, wenn der Attraktor
„Vermeidung“ an Sogwirkung verliert und sich sein Einzugsbereich
in Folge der Destabilisierung vergrößert. Auch wenn dies für
den Klienten zunächst unangenehm sein mag, bietet sich ihm hier die Chance
einer neuen Verarbeitung der Situation.
(5) Symmetriebrechung ermöglichen.
Fortgesetzte Energetisierung und Destabilisierung führen das System in
einen Zustand kritischer Instabilität, in dem zwei oder mehrere Attraktoren
(bzw. Ordner) eines Systems mit gleicher oder ähnlicher Wahrscheinlich-keit
realisiert werden können. In der Synergetik spricht man hier von Symmetrie,
die Realisation eines Attraktors wird als Symmetriebrechung bezeichnet. In der
Metapho-rik der Potenziallandschaft balanciert die das Systemverhalten repräsentierende
Kugel kritisch instabil auf dem Kamm des Hügels, der einen Bifurkationspunkt
darstellt. Be-reits minimale Einflüsse, die so genannten kritischen Fluktuationen,
entscheiden über das konkrete weitere Schicksal des Systems, indem sie
die Kugel in eines der neu ge-bildeten Täler kippen lassen: Im Sinne des
Schmetterlingseffekts können hier kleine Ursachen große Wirkungen
nach sich ziehen. Auf Grund der operationalen Geschlos-senheit des Systems und
dem Einfluss minimaler Kräfte, deren Wirkung sich auch bei bester Kenntnis
des Systems nicht vorhersagen lässt, kann in der Synergetik-Therapie weder
gezielt interveniert, also eine Symmetriebrechung erzwungen werden, noch kann
eindeutig vorhergesagt werden, wie sich das System jenseits des Bifurkationspunktes
verhalten wird: Aus Sicht der Synergetik-Therapie ist es weder der Therapeut
noch das intentionale Bewusstsein des Klienten, die den Prozess steuern und
in eine bestimmte Richtung manipulieren können, vielmehr wird sich das
neue Muster von selbst entwi-ckeln. Da aber der Klient in der Synergetik-Therapie
ein bestimmtes Anliegen bear-beitet, kann davon ausgegangen werden, dass bei
erfolgreichen Therapieausgängen die durch Selbstorganisation herausgebildeten
neuen Muster einen optimierten Zustand darstellen, der dem Anliegen des Klienten
besser gerecht wird und mit den Randbedingungen und Schranken des Systems verträglicher
ist als die alten Muster.
Das folgende Beispiel zeigt, wie die Synergetik-Therapie einen Kontext zur Verfügung,
indem sich die Möglichkeit von Symmetriebrechungen und das „Kippen“
von Mustern eröffnet: Nehmen wir an, ein Klient erlebt im Verlauf des therapeutischen
Prozesses angesichts frustrierender Erfahrungen in einer Lebenssituation aus
seiner Kindheit massive Ärger und Wutgefühle. Er wird - als eines
von vielen möglichen „Scheibchen“ - vom Therapeuten angeregt,
diese mit Hilfe eines Schlagstockes, in der Synergetik-Therapie als Dhyando
bezeichnet, zum Ausdruck zu bringen. Der Therapeut unterstützt ihn dabei
in der Regel durch verbale Instruktionen, das Einspielen von Musik oder durch
eigenes Mitschlagen mit einem Dhyando. Allerdings wird diese Form des Aggressionsausdrucks,
der in anderen therapeutischen Verfahren als Katharsis im Sinne einer Abreaktion
und Befreiung unterdrückter Emotionen hohe Bedeutung zugemessen wird, in
der Synergetik-Therapie vor allem als eine wichtige Möglichkeit der Energiezufuhr
betrachtet: Durch die Arbeit mit dem Schlagstock wird der Klient ermuntert,
die innere Erstarrung aufzulösen und wieder in Bewegung zu kommen. Diese
Steigerung des Aktivitätsniveaus soll in Verbindung mit entsprechenden
internen Kontrollparametern das bisherige Muster des Klienten - etwa: halte
dich zurück und zeige deinen Ärger nicht - destabilisieren und - wenn
ein Zustand kritischer Instabilität erreicht wird - zu einem „Kippen“
des Musters führen. Konsequenterweise wird daher der Klient nicht nur aufgefordert,
seine aggressiven Gefühle abzureagieren, sondern er wird auch während
der Abreaktion immer in Konfrontation mit seinen Energiebildern gehalten: Während
er schlägt soll er genau wahrnehmen, was in der Szene geschieht, welche
Wirkungen er mit seinem Schlagen erzielt und welche Folgen diese Wirkungen wiederum
für sein eigenes Erleben haben. Von einer „Musterkippung“ wird
erst dann gesprochen, wenn sich in der Innenwelt im Verlauf dieses Prozesses
von selbst, also ohne Vorgabe durch den Therapeuten und auch möglichst
ohne intentionale Steuerung durch das Bewusstsein des Klienten eine „heilende
Szene“ entfaltet, die gewissermaßen die Lebensgeschichte korrigiert.
Eine solche heilende Szene ist vor allem durch das veränderte Verhalten
des Klienten und der präsenten Interaktionspartner in der Innen-welt charakterisiert:
Einerseits erlebt der Klient sich selbst in seiner Handlungskompe-tenz, andererseits
verhalten sich alle anderen Anwesenden so, dass sie die grundlegen-den Bedürfnisse
des Klienten in dieser Situation erfüllen.
So werden etwa die Eltern in der heilenden Szene zu „idealen“ Bezugspersonen, die dem Klient als ihr Kind genau das geben, was in der kritischen Lebenssituation notwendig gewesen wäre, um einen anderen Verlauf dieser Situation zu ermöglichen: Wurden in der imaginierten kritischen Situation die Bedürfnisse des Klienten frustriert, so werden sie in der heilenden Szene erfüllt und befriedigt. Die heilenden Szenen können sich dabei ganz von selbst entwickeln, wenn der Klient durch permanente Rückkopplung immer mehr in Kontakt mit seinen in der Situation relevanten, bisher aber unterdrückten oder abgespaltenen Bedürfnissen ist und er - etwa durch die Arbeit mit dem Dhyando - die Blockaden, die in der kritischen Situation die Befriedigung dieser Bedürfnisse verhindert haben, aus dem Weg geräumt hat. Auch wenn die kritische Lebenssituation in der Vergangenheit des Klienten, im Dort-und-Damals liegt, so wird sie im therapeutischen Prozess ins Hier-und-Jetzt geholt und durch Rückkopplung und Agieren zu einer aktuell erfahrenen Situation. Die relevanten, jetzt (wieder) gespürten Bedürfnisse wirken ergänzend zum Aggressionsausdruck als interne Kontrollparameter energetisierend.
Gleichzeitig werden durch das Aufdecken und allmähliche wieder Zugänglichmachen
der unterdrückten Bedürfnisse Informationen in das System gegeben,
die zu dem bisherigen Muster dis-sonant sind: Es bilden sich auf der mikroskopischen
Ebene Kognitionen, Emotionen, Körperempfindungen und Handlungsimpulse,
die sich nicht in das bestehende Muster einpassen und sich nicht von ihm „versklaven“
lassen. Hat es das psychische System des Klienten etwa durch das Muster „Halte
dich zurück und zeige deinen Ärger nicht“ bisher verstanden,
frustrierende Erfahrungen zu „bewältigen“ (was in Gedanken
wie „ich weiß gar nicht, was ich brauche“, „ich bekomme
niemals das, was ich will“, „für mich ist sowieso keiner da“
deutlich werden kann), so stellt sich ihm im Hier-und-Jetzt der aktuellen Therapiesituation
das Problem, dass es dem in diesen gespürten Bedürf-nissen zum Ausdruck
kommende Anliegen gerecht werden möchte. Drängen diese Be-dürfnisse
als interne Kontrollparameter auf Befriedigung, wird das System weiter ener-getisiert
und destabilisiert. Zur „Lösung“ dieser Aufgabe konstruiert
die neuronale Matrix nach einer Phase des kritischen Langsamerwerdens, in der
es dem System immer weniger gelingt, sich im Attraktor „Halte dich zurück
und zeige deinen Ärger nicht“ zu stabilisieren, eine Szene, die mit
der vom Klienten jetzt wahrgenommen Bedürfnislage kompatibel ist und zur
Erfüllung der Bedürfnisse führt. Die Musterkippung geschieht
somit im natürlichen Prozess der Selbstorganisation, da das psychische
System am Bifurkationspunkt der Symmetriebrechung gewissermaßen eine Szene,
man könnte auch sagen: eine Geschichte - (er)finden muss, die zu den Bedürfnissen
passt. Wie diese Geschichte im Einzelnen ausgestaltet wird, ist entsprechend
der Synergetik Theorie nicht vorhersehbar. Allerdings zeigt sich in der Regel,
dass sich die in der heilenden Szene präsenten Bezugspersonen wie ideale
Figuren verhalten, um die Erfüllung der Bedürfnisse zu gewährleisten.
So entsprechen etwa die Eltern unseren Urbildern von Mutter und Vater, die mit
all den Eigenschaften ausgestattet sind, die sie brauchen, um uns in einer richtigen
Weise zu beeltern. Doch es sind nicht nur die ideal reagierenden Bezugspersonen,
von denen sich der Klient ein neues Energiebild schafft, sondern in der heilenden
Szene verändert sich vor allem auch sein Bild von sich selbst in Beziehung
zu diesen Personen. So kann er sich in den Interaktionen mit den idealen Eltern
etwa wieder als Kind erleben, das unbefangen die Liebe und Sorge der Eltern
annehmen kann und die Befriedigung elementarer Grundbedürfnisse einfordert.
Da der Klient seine Innenwelt als real gegeben erleben kann, kann er auch die
heilende Szene, zu der tiefe und echte Gefühlserfahrungen gehören,
als wirkliches Erlebnis - und nicht als eine konstruierte Scharade seines Gehirns
- erfahren. Damit wird die heilende Szene als Energiebild, das aus der neuronalen
Matrix „geboren“ und damit auch in ihr strukturell verankert wird,
zu einer glaubhaften synthetischen Erinnerung, die mit ursprünglichen defizitären
Erfahrungen in Verbindung gebracht wird und eine alternative Sicht der Welt
eröffnet. Auch wenn der Therapeut und der Klient in der Reflektion des
therapeutischen Prozesses sich darüber im Klaren sind, dass die in den
synthetischen Erinnerungen gestalteten Interaktionen in dieser Form nicht in
der äußeren Realität stattgefunden haben, zeigt sich, dass die
Konstruktion einer glaubhaften neuen Erinnerung in Form von Energiebildern die
Wahrnehmung der Gegenwart verändert, weil die Wahrnehmung dieser Gegenwart
eben durch die Erinnerung an die Vergangenheit bestimmt wird (Pesso, 1999).
Da Veränderungen in der Wahrnehmung der Welt aber auch mit Veränderungen
im eigenen Verhalten und Handeln einhergehen, sind auch Auswirkungen der durch
die Synergetik-Therapie in der Innenwelt generierten Erfahrungen auf die Umwelt
des Klienten wahrscheinlich.
(6) Re-Stabilisierung.
Um die Wirkung des oben beschriebenen Prozesses zu verstärken, muss dieser
häufig mit anderen Situationen oder Bezugspersonen wiederholt in einer
oder mehreren aufeinander folgenden Sessions durchlebt werden. Dadurch gelingt
es dem Klienten immer besser, ein neues Muster (wie etwa „Ich darf meine
Bedürfnisse wahrnehmen und ihre Befriedigung einfordern“) zu stabilisieren,
zu automatisieren und unter entsprechenden Randbedingungen zugänglich bzw.
verfügbar zu halten. Innerhalb einer Session wird die Stabilisierung unter
anderem dadurch unterstützt, dass die in den neuen Energiebildern präsenten
Erfahrungen auf der kinästhetischen und emotionalen Ebene tief verankert
und in aktuelle oder zukünftige reale Lebenssituationen des Klienten projiziert
werden. Gegen Ende der Session wird der Klient einige Minuten allein im Therapieraum
gelassen, um die neuen Erlebnisse in die bestehenden Selbst-konzepte und emotionalen
Schemata zu integrieren.
Die hier beschriebenen Prinzipien sind keineswegs als ein normatives Phasenmodell
zu verstehen, das der Eigendynamik menschlicher Entwicklungsprozesse eine normative
Schrittfolge aufzwingen würde. Vielmehr kommt es im Verlauf einer Session
in der Sy-nergetik-Therapie immer wieder zu „Rückschritten“
in bereits durchlaufene Prozessstufen, aber auch zu plötzlichen qualitativen
Veränderungen, bei denen einzelne Phasen scheinbar „übersprungen“
werden. In diesem Sinne stellen die Prinzipien hilfreiche Kriterien dar, anhand
derer der therapeutische Prozess reflektiert werden kann.
Wie die Beispiele deutlich machen kommen die Klienten mit einer stabilen "leiderzeugen-den"
Wirklichkeitskonstruktion, deren Bestandteile subjektiv als real erlebt werden.
Syner-getik-Therapie verflüssigt in Phasen chaotischen Prozessierens diese
erstarrte Wirklichkeit und schafft so die Grundlage für neue, vielfältige
Wirklichkeitswahrnehmungen. Freilich dürfen die Klienten nicht im Chaos
konstruktiver Beliebigkeit entlassen werden. Vielmehr ist darauf zu achten,
dass sich nach der Phase des Chaos in Folge der Strukturkippung eine wiederum
stabile, "gesundmachende" Wirklichkeitskonstruktion entfaltet, die
ihre tiefge-hende Wirkung dadurch entwickelt, dass der Klient sie als ebenso
real erfährt wie die In-teraktionen, die in der Außenwelt stattfinden.
Gewissermaßen kommt der Klient als naiver Realist in die Therapie, wandelt
sich während des Prozesses zum Konstruktivisten, der offen für viele
Weltsichten ist, geht aber dann wieder als naiver Realist aus der Therapie,
der für sich eine Weltsicht ge- oder erfunden hat, die mit seinen Anliegen
verträglicher ist, als der Ausgangszustand. Offen bleibt, ob die neuen
Muster die alten Ordnungszustände völlig ersetzen oder ihnen als alternative,
heilende Erfahrung zur Seite gestellt werden. Doch in beiden Fällen hat
der Klient einen Weg gefunden, aus sich selbst heraus diese heilenden Erfahrungen
zu generieren - in diesem Sinne stellt Synergetik-Therapie einen Rahmen dar,
in dem Selbstheilung geschehen kann.
Schluss
Ein Klient, der sich auf eine Synergetik-Therapie einlässt, wird sich in
die von seinem The-rapeuten gelernte und vertretene Theorie im weitesten Sinne
einpassen müssen. Dies ist in der Synergetik-Therapie nicht anders als
bei anderen therapeutischen Schulen: Halt und Orientierung findet der Klient
im Rahmen einer von außen an ihn herangetragenen, mehr oder weniger passenden
Theorie, wobei die nicht passenden Teile im Vollzug des Anpas-sungsprozesses
an die therapeutische Theorie umgedeutet oder sogar ganz ausgeschlossen werden
können. Viele therapeutische Vorgehensweisen kommen dem Bedürfnis
von Klienten nach einer vom "Fachmann" gebotene Orientierung und einem
Halt von außen nach, indem sie - angelehnt an ihre jeweilige Theorie -
dem Klienten Ratschläge geben und Strategien vermitteln, die zu einem gesünderen,
erfolgreicherem oder auch glücklicherem Leben führen sollen. Die Synergetik-Therapie
wählt hier einen anderen Weg, indem sie jedem Menschen die Kompetenz zur
Selbststeuerung, zum Finden eigener Wege auch in schwierigen Situationen zutraut.
Sie schafft mit ihrem Setting und durch das praktische Vorgehen eine wachstumsförderliche
Atmosphäre, in und mit der Menschen selbstständig und selbstgesteuert
lernen und sich entwickeln können. Und damit steht sie im Einklang mit
der ihr zugrunde liegenden Theorie.
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